KATHOLISCHE KIRCHE UND JUDENTUM - 50 JAHRE NACH ERÖFFNUNG DES II. VATICANUMS

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Artikel veröffentlicht: 02.06.2012, 15:12 Uhr

http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/ist-die-katholische-kirche-in-der-moderne-angekommen_1.17133432.html

NEUE ZÜRCHER ZEITUNG
2. Juni 2012

IST DIE KATHOLISCHE KIRCHE IN DER MODERNE ANGEKOMMEN?
Die Verbindlichkeit des Konzils und die Frage der Aussöhnung mit den Traditionalisten
Jan-Heiner Tück

Derzeit absorbieren die «Vatileaks» die mediale Aufmerksamkeit in Sachen Vatikan. Ein kirchenpolitisch und theologisch bedeutsamer Streit zwischen zwei Kardinälen sollte darob nicht überhört werden. Es geht um Weichenstellungen des Zweiten Vatikanums, die das Verhältnis des Katholizismus zum Judentum betreffen.
Die «Vatileaks» sorgen für Schlagzeilen und wilde Spekulationen. Im Schatten dieser Vorfälle ist in den letzten Tagen auch von einem Streit zwischen zwei Kardinälen berichtet worden. Der eine, Walter Brandmüller, stellt die Verbindlichkeit zweier Konzilserklärungen zur Disposition, der andere, Kurt Koch, hält dagegen, dass es sich um unhintergehbare Entscheidungen handelt, die für alle Katholiken verbindlich sind. Der Disput ist brisant, im Hintergrund stehen die Bemühungen des Vatikans, sich mit der traditionalistischen Piusbruderschaft auszusöhnen, die zentrale Lehren des Konzils in Zweifel zieht. Letztlich geht es um die Stellung der katholischen Kirche zur Moderne, um ihr Verhältnis zum Judentum und zu den anderen Religionen, aber auch um die Anerkennung der Gewissens- und Religionsfreiheit.
Abgestufte Verbindlichkeit?
Walter Brandmüller, der von 1998 bis 2009 Präsident des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaften war und 2010 zum Kardinal ernannt worden ist, hofft wie Papst Benedikt XVI. auf eine Rückkehr der schismatisch orientierten Piusbruderschaft in die katholische Kirche. Jüngst hat er darauf verwiesen, dass die Dokumente des Konzils einen abgestuften Verbindlichkeitsgrad besässen, die Erklärungen «Nostra Aetate» und «Dignitatis humanae» daher von geringerem Gewicht seien. Der Hinweis ist formal zutreffend, inhaltlich aber höchst bedenklich. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) hat sechzehn Dokumente verabschiedet, darunter vier Konstitutionen, einige Dekrete und Erklärungen. Die traditionelle Stufung der Verbindlichkeit, die Brandmüller geltend macht, geht am lehramtlichen Diskurs des Konzils insofern vorbei, als dieses auf dogmatische Definitionen und Verurteilungen von Irrtümern ausdrücklich verzichtet hat.
Im Sinne der Vorgaben von Johannes XXIII. hat es auf eine positive Darlegung der Glaubenswahrheiten abgestellt. Dieser neue Typ lehramtlichen Sprechens, den man als «pastoral» bezeichnen kann, ist von der Piusbruderschaft von Anfang an abgelehnt worden. Brandmüllers Hinweis zielt denn auch darauf ab, den Traditionalisten ein Signal des Entgegenkommens zu geben. Die Piusbruderschaft vertritt nicht nur partiell eine antijudaistische Theologie und erhält den Vorwurf des Gottesmordes bis heute aufrecht, sie bezeichnet auch die Anerkennung der Religionsfreiheit durch das Konzil als modernistische Häresie. Wenn Brandmüller den Rang der beiden Dokumente herabstuft, geht er aber auch inhaltlich darüber hinweg, dass die Grundlagen für beide Erklärungen in den Konstitutionen gelegt werden.
So findet sich in der dogmatischen Konstitution über die Kirche, «Lumen gentium», die dialogische Öffnung des Kirchenbegriffs im Blick auf die nichtkatholischen Kirchen, die nichtchristlichen Religionen und auch die Atheisten. Eine Hermeneutik der Abgrenzung, welche Nichtchristen als «Heiden» und Nichtkatholiken als «Schismatiker» und «Häretiker» bezeichnet, weicht hier einer Hermeneutik der Anerkennung, die das «Gute und Wahre» bei den anderen würdigt. Die überlieferte Lehre von der «Heilsnotwendigkeit» der Kirche wird nicht zurückgenommen, aber der Begriff der Kirche ausgedehnt, und es wird von unterschiedlichen Graden der Zugehörigkeit gesprochen.
Beide Erklärungen sind Ausdruck der konziliaren Öffnung der Kirche. «Nostra Aetate» steht für den interreligiösen Dialog und die Öffnung zum Judentum. Die katholische Kirche hat ihre Lektion aus der Geschichte gelernt, jede Form von Antijudaismus abgelehnt und das Judentum theologisch gewürdigt. «Dignitatis humanae» steht für die Anerkennung der Religions- und Gewissensfreiheit und basiert auf Aussagen der Pastoralkonstitution «Gaudium et spes», die den modernen Menschenrechtsgedanken bejaht hat. Stellt man diese Entscheidungen, wie Brandmüller es zu tun scheint, dem subjektiven Belieben anheim, um den Traditionalisten einen Köder hinzuhalten, droht man hinter das Konzil zurückzufallen.
Der Schweizer Kardinal Koch, der als Präsident des Rates für die Einheit der Christen auch für die offiziellen Kontakte zum Judentum zuständig ist, hat zu Recht andere Akzente gesetzt. Er weiss um die Irritationen, die bei den jüdischen Gesprächspartnern entstehen, wenn die Verbindlichkeit jenes Dokumentes angetastet wird, das die Basis für die interreligiöse Verständigung abgibt. Kaum zufällig hat der Wiener Kardinal Franz König einst von der Erklärung «Nostra Aetate» als dem «kürzesten, aber bedeutendsten Konzilsdokument» gesprochen – und Johannes Paul II. hat dem neuen Geist mit nachwirkenden symbolischen Gesten Ausdruck verschafft. Bei seinem Synagogenbesuch in Rom hat er 1986 von den Juden als den «bevorzugten und älteren Brüdern im Glauben» gesprochen, im Jahr 2000 hat er an der Klagemauer in Jerusalem um Vergebung für die judenfeindlichen Ausschreitungen von Christen gebetet und damit eine purificazione della memoria eingeleitet. Man kann daher fragen, ob es nicht Ausdruck einer betrüblichen Geschichtsvergessenheit ist, wenn der Kirchenhistoriker Brandmüller aus taktischen Gründen ausgerechnet «Nostra Aetate» herabstuft, um zu den rückkehrwilligen Traditionalisten eine Brücke zu schlagen.
Stattdessen wäre von der Piusbruderschaft eine unzweideutige Aufarbeitung ihrer antijudaistischen Theologie zu fordern. Gleiches gilt für die traditionalistische Ablehnung der Erklärung über die Religionsfreiheit. Der Kritik, das Konzil habe einen Traditionsbruch vollzogen, schon Pius IX. habe die Religionsfreiheit als «Pest des Liberalismus» verurteilt, hat Benedikt XVI. – durchaus raffiniert – eine Hermeneutik der Reform entgegengehalten, die in den Konzilsdokumenten «ein Zusammenspiel von Kontinuität und Diskontinuität auf unterschiedlichen Ebenen» aufzuweisen sucht.
Grund zum Protest
Das Konzil erhält den Wahrheitsanspruch des Evangeliums aufrecht und betont die Glaubensfreiheit, hier besteht Kontinuität zur kirchlichen Lehrüberlieferung. Zugleich bricht es mit dem Modell des katholischen Staates und anerkennt, wie Benedikt sagt, «mit dem Dekret über die Religionsfreiheit einen wesentlichen Grundsatz des modernen Staates». Der traditionalistische Traum von einem Staat, der als verlängerter Arm der Kirche agiert, um katholische Glaubenswahrheiten öffentlich durchzusetzen, ist damit als Albtraum abgewiesen. Marcel Lefebvre, der Gründer der Piusbruderschaft, sympathisierte noch offen mit den Regimen Francos und Pinochets. Solche Phantasien haben in der katholischen Kirche des 21. Jahrhunderts keinen Platz. Der Preis für die Aussöhnung mit der Piusbruderschaft wäre zu hoch, wenn die Erklärungen «Nostra Aetate» und «Dignitatis humanae» ins Zwielicht gerückt oder gar zurückgenommen würden. Wäre Letzteres zu befürchten, hätten Katholiken allen Grund zum Protest.

Prof. Dr. Jan-Heiner Tück ist Professor für dogmatische Theologie an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien.


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