ZUR REDE VON DER "JÜDISCH-CHRISTLICHEN" KULTUR EUROPAS - Ein Beitrag von Prof. Hanspeter Heinz

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Artikel veröffentlicht: 07.04.2011, 10:42 Uhr

Wir danken der Redaktion der HERDER-KORRESPONDENZ für die Zustimmung zur Veröffentlichung des folgenden Beitrags von Professor Hanspeter Heinz.

Der Beitrag ist der HERDER-KORRESPONDENZ – Februar 2011 entnommen.

Karl H. Klein-Rusteberg

 

Hanspeter Heinz

Kein banaler Philosemitismus!

Zur Rede von der „jüdisch-christlichen“ Kultur Europas

 In der jüngst erst wieder entbrannten Debatte über eine deutsche Leitkultur war viel von dem

„jüdisch-christlichen“ Erbe Europas die Rede. Dies ist nicht nur geschichtsvergessen.

Problematisch an der neuen Feier des vorgeblich tausendjährigen Miteinanders von Juden und

Christen ist die politische Instrumentalisierung der Juden gegen den Islam.

Horst Seehofer dröhnte in der im Herbst letzten Jahres wieder einmal heftig entbrannten

Leitkultur-Debatte, diese deutsche Leitkultur werde „bestimmt von der christlich-jüdischen

Wertetradition“ und erklärte im selben Atemzug, was das bedeute: „Multikulti ist tot!“

Bundeskanzlerin Angela Merkel sprang ihm bei, als sie auf die „prägende Kraft“ der

christlich-jüdischen Tradition für Deutschland verwies, die „über Jahrhunderte, ja

Jahrtausende“ zurückreiche. Was für eine mutige Umschreibung der Geschichte! Noch vor

100 Jahren stand das gesamte rabbinische Denken unter Verdacht, sich abzuschotten, genuin

fremd zu sein, unsere christliche Kultur zu unterminieren, also genau das zu tun und zu sein,

was jetzt angeblich alle Muslime tun und sind. Das Üble an der neuen Feier des

tausendjährigen Miteinanders von Juden und Christen ist nicht, dass damit eine

soziohistorische Gemeinsamkeit unterstrichen werden soll, die es in Wahrheit erst seit 60

Jahren gibt. Die behauptete Großökumene dient im schärfer werdenden „Kampf der

Kulturen“ einzig und allein als Ausschlussverfahren, sie wird als Leitkulturplanke

eingezogen, als Schutzwall gegen das Meer der Millionen Muslime, die sich angeblich hier

einnisten, um unser jüdisch-christliches Wesen zu bedrohen.

 

Auch der Islam gehört zum kulturellen Erbe Europas

Vermutlich kommt die Bezeichnung „jüdisch-christliches Europa“ vom amerikanischen

Englisch her. In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts fühlten sich die Juden so weit in

ihre US-amerikanische Gesellschaft integriert, dass sie in der politischen Sprache auf die

Gemeinsamkeiten von Judentum und Christentum hinwiesen und sich damit durchsetzen

konnten. Erst viel später haben deutsche Politiker diese Formulierung übernommen. Zu

Konrad Adenauers Zeiten war noch selbstverständlich vom christlichen Abendland die Rede,

das es gegen den Bolschewismus zu verteidigen gelte.

Doch seit etwa einem Jahrzehnt ist die Formel vom jüdischchristlichen Erbe Europas

beziehungsweise der jüdisch-christlichen Kultur im Munde von Politikern und kirchlichen

Repräsentanten geläufig. In der heftigen Debatte um eine europäische Verfassung betonten

kirchliche Autoritäten vor fünf Jahren, das Zusammenwachsen der europäischen Staaten

müsse mehr als ein wirtschaftlicher und verwaltungstechnischer Prozess sein, Europa müsse

eine „Seele“ haben, die sich doch dem jüdisch-christlichen Erbe verdanke. Deshalb forderten

sie, Gott in der Verfassung ausdrücklich zu erwähnen, wogegen andere einwandten, die Rede

von Gott sei doch wohl eher eine Sache der Kirche als staatlicher Instanzen. Ist der

Bindestrich „jüdisch-christlich“ nur der Political Correctness geschuldet, um sich von der

Jahrhunderte alten Diskriminierung der Juden durch die Kirche zu reinigen – und das nach der

Shoa?

Und wo bleibt eigentlich der Islam? Er gehört doch auch zum kulturellen Erbe Europas, wenn

man bedenkt, dass er 780 Jahre bis zu seiner Vertreibung im 15. Jahrhundert in Spanien eine

beachtliche Kultur entfaltete und das Osmanische Reich über 500 Jahre bis 1878 große Teile

des Balkans verwaltete. Auch der Islam gehört zu Europa, aber das istein eigenes Thema.

 

Europa – der christliche Kontinent

Von außen betrachtet, ist Europa immer noch ein christlicher Kontinent. Das zeigt die seit

dem 17. Jahrhundert unveränderte Religionskarte: Rechnet man mit rund 500 Millionen

Menschen in Europa (diesseits des Urals), so sind etwa die Hälfte davon Katholiken und ein

Drittel orthodoxe und evangelische Christen. Die anderen Weltreligionen spielen in Europa

nur eine marginale Rolle, mit Ausnahme des Islam, der im Südosten über einige geschlossene

Territorien verfügt und auch im Bereich der Europäischen Union mit etwa 18 Millionen

Anhängern präsent ist. Der jüdische Bevölkerungsanteil beträgt etwa 1,3 Millionen; 1946 gab

es in Europa noch 4,4 Millionen Juden.

Die Entstehung des politischen Europa beginnt mit dem Frankenreich. Fortan grenzt sich das

mittelalterliche Europa einerseits vom islamischen Südrand des Mittelmeers, andererseits vom

byzantinisch beherrschten Ost- und Südosteuropa ab. Sein geistiger Kristallisationspunkt

wurde die römisch-lateinische Kirche. Die Frankenkönige und ihre Nachfolger treten die

Nachfolge des Imperium Romanum an; sie verstehen sich zugleich als Vormacht des

Christentums und als Hüter und Erneuerer der antiken Bildung und Kultur (Karolingische

Reform). Das werdende Europa wird getragen von Romanen, Germanen und Slawen. Die

auffallendsten Wesenszüge des mittelalterlichen Europa sind Rationalität, Reform und

Freiheit. Sie markieren zugleich den Unterschied zum orthodoxen Christentum, das diese

Entwicklungen nicht mitvollzogen hat und sich von der Zerstörung Konstantinopels im 4.

Kreuzzug (1204) und der Eroberung des Byzantinischen Reiches durch die Osmanen (1453)

nie mehr erholt hat.

Klöster und Kathedralschulen schufen eine ganz Europa formende Bildungstradition. Die

Tradierung der Kirchenväter erfuhr im 11. Jahrhundert eine wesentliche Zäsur: Die

„Scholastik“, die verschiedene Schulen ausbildete, war die Anstrengung der Vernunft, die

Bibel und die Lehren (Sentenzen) der Kirchenväter zu systematisieren und rational zu

überprüfen. Dazu bedienten sich die Scholastiker wie Thomas von Aquin der

Originalschriften der großen griechischen Philosophen (Plato, Aristoteles), die ihnen durch

arabische Gelehrte (Averroës, Avicenna) erstmals zugänglich wurden. Glaube und Vernunft

befragten sich gegenseitig. Thomas von Aquin und Meister Eckhart studierten auch Moses

Maimonides (gestorben 1204), der als „der philosophische Jude“ galt – freilich, um ihn zu

widerlegen.

Die Vitalität der europäischen Christenheit erwies sich nicht nur in der missionarischen

Ausbreitung des Glaubens, sondern ebenso in immer neuen Reformen von oben und von

innen her. Hier sind besonders die Ordensbewegungen zu nennen. Nachdem die

Kirchenleitung die Jahrhunderte lang geforderte „Reform an Haupt und Gliedern“ verweigert

hatte, griffen die Reformatoren schließlich den Reformgedanken auf, was zur westlichen

Kirchenspaltung führte.

Ein drittes Charakteristikum Europas ist schließlich das Ringen um Freiheit, einerseits in der

Verteidigung gegen fremde Eroberer, andererseits in der Auseinandersetzung zwischen Papst

und Kaiser, die das ganze Mittelalter hindurch währte. Der Papst erlangte schließlich die

„Freiheit der Kirche“, ihre Unabhängigkeit von der kaiserlichen Autorität. Doch die Freiheit

im Innern der Kirche wurde immer wieder durch die Verurteilung von „Ketzern“ unterdrückt.

Inquisition und Hexenverbrennung gehören zu den dunkelsten Kapiteln der

Freiheitsberaubung durch die Kirche. Weder politisch noch kirchlich bildete „die

Christenheit“ je eine institutionelle Einheit.

 

Emanzipation der Weltlichkeit von kirchlicher Bevormundung

Spätestens Mitte des 17. Jahrhunderts endete das Mittelalter, dessen seit Leopold von Ranke

klassisch gewordene Momente die römisch-germanischen Völker, die Antike und das

Christentum sind. Der tiefste geschichtliche Einschnitt, mit dem die Periode der „Neuzeit“

beginnt, so Ernst Troeltsch, war nicht die westliche Glaubensspaltung, sondern das Ende der

Konfessionskriege und die Säkularisierung der Politik. Da sich die Konfessionen als unfähig

erwiesen, Frieden zu garantieren, übernahm der religionsneutrale Staat diese Aufgabe und

wurde zum Garanten der Toleranz. Bürgerrechte wurden durch die Revolutionen der

Aufklärungszeit erstritten.

Erst im Zweiten Vatikanischen Konzil bekannte sich die katholische Kirche zu Demokratie

und Menschenrechten als evangeliumsgemäßen Forderungen, wenngleich sie sie im eigenen

Raum immer noch nicht zulässt. Man muss die Säkularisierung nicht pauschal als

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Verweltlichung und Enteignung von Kirche und Christentum werten, man kann sie auch als

Emanzipation der Weltlichkeit von kirchlicher Bevormundung deuten. Freilich zeigt die

freigesetzte Weltlichkeit in unserem Jahrhundert auch ihre gefährliche Kehrseite, die

Möglichkeit der Selbstzerstörung von Leben und Welt. Die Vorstöße einer zügellosen

Weltbeherrschung durch moderne Wissenschaft und Technik haben den

Fortschrittsoptimismus der Aufklärung längst in kritische Distanz umschlagen lassen.

 

Säkularisate der christlichen Tradition

Eine Fortsetzung beziehungsweise ein direktes Anknüpfen an das christliche Mittelalter ist

nach den Brüchen von Säkularisierung und Revolutionen nicht mehr möglich. Aber trotz der

schwindenden Prägekraft von Christentum und Kirche gibt es Säkularisate der christlichen

Tradition. Viele theologische und ethische Impulse sind in gesellschaftliche beziehungsweise

staatliche Strukturen eingeflossen – auch wenn sie nicht ohne weiteres als „christlich“

identifizierbar sind. Das gilt etwa für die Systeme sozialer Sicherung, in denen Diakonie

beziehungsweise Caritas ihr Echo finden, die unbedingte rechtliche und moralische

Anerkennung der Personenwürde, in der neben Ideen der Aufklärung das biblische

Menschenbild nachklingt, die Etablierung des „Berufs“, den namentlich Martin Luther als

weltliche Realisierung von Gottesdienst begriff.

Mit dieser Überführung theologischer Ideen in weltliche „Werte“ und Handlungsstrategien

hat das Christentum kulturund gesellschaftsprägend gewirkt, es hat – bei aller Fehlerhaftigund

Anfälligkeit – wesentlich zum Aufbau einer „sozialen“ Politik und Marktwirtschaft, eines

sozialverpflichtenden Bürgertums und einer auf Konvivenz angelegten Gesellschaft

beigetragen. Heute wissen wir, dass dieselben „Werte“ ebenso in der 2000-jährigen jüdischen

Tradition verankert sind. Denn die Ethik Jesu war jüdische Ethik, und die ethischen Postulate

von Christen und Juden weisen in dieselbe Richtung.

Seit den Zeiten von Caesar gibt es die jüdische Religionsgemeinschaft in Europa, zuerst in

Rom. Dort lebt die älteste, ununterbrochen existierende Gemeinde des Kontinents. Aus dem

Jahr 323 stammt die erste urkundliche Erwähnung einer jüdischen Gemeinde in Deutschland:

in Köln, 34 Jahre vor der ersten christlichen Gemeinde. Selbst nach der Niederschlagung der

beiden jüdischen Aufstände in Judäa galt im Römischen Reich das Judentum weiterhin als

„erlaubte Religion“, eine Duldung, woran sich auch durch die Erhebung des Christentums zur

Staatsreligion im 4. Jahrhundert nichts änderte.

Das erste mittelalterliche jüdische Zentrum war 780 Jahre lang Spanien, die meiste Zeit unter

toleranter arabischer Herrschaft, bis die „christliche“ Reconquista Muslime und Juden 1492

des Landes verjagte. Das andere wichtige Zentrum war seit dem 10. Jahrhundert das

Rheinland mit den drei „Heiligen Gemeinden“ Speyer, Worms und Mainz, das prägend für

alle Juden Mittel- und Osteuropas und für ihre Nachkommen in den USA und Israel wurde.

Nach Phasen blutiger Pogrome wurden schließlich im 15. Jahrhundert die Juden aus den

Städten des Römischen Reiches ausgewiesen. Der Schwerpunkt verlagerte sich ins

Königreich Polen-Litauen, das vom 16. bis 20. Jahrhundert zu einem europaweiten Zentrum

talmudischer Gelehrsamkeit wurde.

In Deutschland sind seit dem 16. Jahrhundert bis 1933 keine größeren Vertreibungen und

erfolgungen erfolgt. Auch in friedlichen Perioden waren die Juden immer Außenseiter, nie

Teil der Mehrheitsgesellschaft. Sie selbst verstanden sich im 19. Jahrhundert durchaus als

„Deutsche jüdischer Konfession“, als Teil des Staatsvolkes. Die Rede von einer über

tausendjährigen jüdisch-christlichen Kultur ist eine Fiktion.

 

Ein theologisches Ärgernis

„Was uns trennt ist die Geschichte“, pflegte der 2007 verstorbene Brückenbauer zwischen

Juden und Christen, der Judaist Ernst-Ludwig Ehrlich, zu wiederholen. Es sind zum einen die

immer wiederkehrenden blutigen Exzesse gegen Juden. Den „gottlosen“ Juden traute man

alles zu: Brunnenvergiftung, Hostienschändung, Ritualmorde, die für judenfeindliche

Stimmung sorgten. Zum anderen waren die Juden zwar geduldet und nützlich, aber nie

wurden sie geachtet wie etwa die griechischen und römischen Dichter und Denker. Der Zutritt

zu den Zünften der Handwerker war ihnen im Heiligen Römischen Reich ebenso verwehrt

wie der Erwerb von Grundbesitz, ausgenommen Häuser. Doch als Ärzte, vor allem als

Händler und Geldverleiher wurden sie gebraucht, mussten für diese Dienste aber hohe

Abgaben entrichten und Gewalt und Neid der Bevölkerung erleiden.

Im Unterschied zum kämpferischen Islam im Südosten Europas waren die Juden nie eine

militärische Bedrohung. Weit mehr als die Muslime waren sie jedoch ein theologisches

Ärgernis, weil sie sich konsequent weigerten, die doch offensichtliche Wahrheit des

Christentums anzuerkennen. Selbst durch Zwangsdisputationen, Zwangspredigten und

Zwangstaufen ließen sich diese „halsstarrigen, verstockten Juden“ nicht bekehren! Es sei

angemerkt, dass gegen die Praxis aller anderen westeuropäischen Länder Papst Pius IX. Mitte

des 19. Jahrhunderts die diskriminierende Politik gegenüber den Juden mit der Einführung des

Ghettos und der Kennzeichnungspflicht im Vatikan wieder aufgenommen hat, ebenso wie die

Wiedereinführung der Zwangspredigten: fünfmal jährlich mussten die Juden

Missionspredigten hören.

Erst die Aufklärung brachte den Juden in den europäischen Ländern im Laufe des 19.

Jahrhunderts nach und nach die hart erkämpfte bürgerliche Gleichstellung. Allerdings

mussten sie einen hohen Preis zahlen: Die Mehrheitsgesellschaft legte ihnen die Aufgabe

ihrer religiösen Identität nahe. Der Taufschein galt für viele Berufe – besonders an

Universitäten und im übrigen Staatsdienst – als „Entrée Billet“ (Heinrich Heine) in die

europäische Gesellschaft. Doch nicht wenige „weltliche“ Juden suchten zu dieser Zeit auch

eine Rückkehr zu ihrer Tradition und orientierten sich am Vorbild von Franz Rosenzweig und

Martin Buber. Beides hat die Shoa unter der Hitlerdiktatur zerstört.

 

Enterbung der Juden durch das Christentum

An der Schwelle des Zweiten Vatikanischen Konzils, das 1965 die Wende der christlichjüdischen

Beziehungen eingeläutet hat, besuchte der jüdische Historiker Jules Isaac aus

Frankreich Papst Johannes XXIII. Als Resultat seiner gründlichen Forschungen legte er dar:

Die verhängnisvolle Weichenstellung im Verhältnis des Christentums zum Judentum sei die

„Theologie der Verachtung“. Was das bedeutet, lässt sich in erschreckender Deutlichkeit an

den Portalen gotischer Kathedralen wie Straßburg oder Bamberg in der Gegenüberstellung

zweier schöner Frauengestalten „bewundern“: auf der einen Seite die siegreiche, von Gott

erwählte Ecclesia, auf der anderen die besiegte, von Gott verworfene Synagoga. Es lässt sich

nicht leugnen, dass die (un-)christliche Judenverachtung die Abwehrkräfte der Kirche gegen

die Judenvernichtung der Nazis wesentlich geschwächt hat.

Ein Beispiel ist der Münchner Erzbischof Kardinal Michael von Faulhaber. Im Dezember

1933 predigte er über die katholische Hochschätzung des Alten Testaments. Er reklamierte es

für das Christentum mit der Behauptung, es sei zwar im Judentum entstanden, aber eigentlich

kein jüdisches Buch. Deshalb dürfe man die Abneigung gegen das zeitgenössische Judentum

nicht auf das Alte Testament übertragen wie die Nationalsozialisten und die Deutschen

Christen, die es als „Judenbuch“ verworfen hatten. Aufgrund seiner Adventspredigten hat

man den Mut des Münchner Erzbischofs bewundert. Im In- und Ausland galt er seitdem als

Garant und geistiger Führer des katholischen Widerstandes. Solch hoher Erwartung konnte er

freilich nicht entsprechen. Denn gegen „ehrliche Rassenforschung und Rassenpflege“ hatte er

nichts einzuwenden. Auch waren seine Predigten vom klassischen Antijudaismus geprägt:

Verworfenheit und Flucht als göttliches Stigma des „ewigen Juden“.

Zwar hatte die Kirche von Rom Mitte des 2. Jahrhunderts die Häresie des Markion verworfen,

der das Alte Testament und den Weltenschöpfer ablehnte. Er konstruierte einen radikalen

Gegensatz zwischen Gesetz und Evangelium, dem grausamen Gesetzes- und Schöpfergott und

dem guten, durch Christus geoffenbarten Gott des Evangeliums. Durch diese Entscheidung

gehört das Alte Testament zur Gründungsurkunde, zur Konstitution der Kirche. Aber die

Kirche hat die Juden als erste und bleibende Adressaten ihrer Heiligen Schrift enteignet und

sich selbst die wahre Auslegung des Alten Testaments als Hinweis auf den verheißenen

Messias vorbehalten. So entspricht es der Theologie der Kirchenväter der ersten christlichen

Jahrhunderte mit dem Auslegungsschema „Verheißung – Erfüllung“. Auch für die Zuordnung

der alttestamentlichen zu den neutestamentlichen Lesungen in den heutigen liturgischen

Büchern der römisch-katholischen Liturgie ist dieses Schema maßgeblich.

Zu allen Zeiten hat sich die jüdische Kultur die Errungenschaften der Mehrheitsgesellschaft

zu Nutze gemacht. Doch es muss auffallen, dass sie seit dem 19. Jahrhundert auch

unverhältnismäßig viele hoch bedeutsame Beiträge in die deutsche, europäische und

weltweite Kultur einbringen konnte. Komponisten, Solisten und Orchester, Banker und

Kaufleute, Dichter und Maler, Naturwissenschaftler, Philosophen, Schachmeister und

Nobelpreisträger sind unter Juden besonders häufig. Nicht zuletzt hat das Judentum

bahnbrechende Denker hervorgebracht. Das 1970 in den USA erwachte Interesse an Klezmer-

Musik und an den chassidischen Geschichten schöpft den geistigen Beitrag des Judentums zur

Kultur der Gegenwart keineswegs aus.

Aus welchen Quellen kommt wohl dieser jüdische Beitrag zur Kultur? Einige Phänomene

können zu denken geben: Dass Juden in Wirtschaft, Bankwesen und Handel eine große Rolle

spielen, ist nicht verwunderlich, da sie in diese Berufe gedrängt wurden. Seit 2000 Jahren sind

Juden eine Minderheit, konnten keine Macht ausüben, Aber sie haben Widerstand gelernt und

Selbstbehauptung. Rühren daher vielleicht bei Karl Marx der Aufschrei gegen Entfremdung

und Unterdrückung und der Kampf für das messianische Ziel von Gerechtigkeit und Frieden?

Man kann auch an „Das Prinzip Hoffnung“ von Ernst Bloch denken oder an die Überwindung

einer rein empirischen Psychologie durch die Frage nach Sinn bei Viktor Frankl. Hierzu der

evangelische Theologe Jürgen Moltmann: „Der Gott Israels stellt nicht Recht und Unrecht

fest, um Gutes mit Gutem und Böses mit Bösem zu vergelten (…) Seine Gerechtigkeit ist auf

Seiten der Opfer eine Recht-schaffende (…) und auf der Seite der Täter eine zu-Rechtbringende

Gerechtigkeit.“

 

Das Judentum – eine ethische Religion

Das Judentum, die älteste Religion der Welt, ist vor allem eine ethische Religion, die das

Handeln Gottes in der Geschichte und das Handelns der Menschen bedenkt. Juden haben nie

ein spekulatives System von Gott und Welt entwickelt wie christliche Dogmatiker oder

deutsche Idealisten. Wohl waren sie immer herausgefordert zur Verteidigung ihres Glaubens.

Religion und Vernunft ist darum ein durchgängiges Thema ihres Denkens. Hat der Vorrang

der Ethik bei Hans Jonas und Emanuel Levinas hier seinen Ursprung? Ein amerikanischer

Freund, Michael Signer, forderte ein: „Wer uns Juden und das Judentum schätzt, muss uns

studieren. Denn für Juden ist Studium Gottesdienst.“ Vielleicht verdankt sich dieses Ethos der

Kultur des Talmudstudiums. Vielleicht gibt es deshalb unter Juden so viele Wissenschaftler

von Weltrang.

Aus all dem ergibt sich eine Reihe von Postulaten: Keine politische Instrumentalisierung der

Juden gegen den Islam! Das fällige Religionsgespräch darf aus christlicher Sicht aber nie

unterschlagen, dass das Verhältnis des Christentums zum Judentum einzig ist und in jeden

Dialog mit einer anderen Religion einbezogen werden muss.

Keine vollmundige Beschwörung einer jüdisch-christlichen Leitkultur! Solche Banalisierung

ist eine Form von Philosemitismus, vor der man Juden bewahren sollte. Not tut eine nüchterne

historische Untersuchung über die Verbindung des Judentums mit der deutschen Kultur und

dem Christentum.

Zur weiteren Gestaltung der Kultur Europas und der Welt bedarf es der Anstrengung des

Denkens! Nur über die Vermittlung der Aufklärung lässt sich über säkulare Werte sprechen.

Nicht weil sie christlich oder jüdisch sind, sondern weil sie vernünftig sind, verdienen sie

Zuspruch. Aber es geht auch nicht ohne Theologie. Denn wie Religion wesentlich zur

Eskalation der Spannungen beigetragen hat, muss sie auch zu ihrer Deeskalation

herangezogen werden.In Fortführung des Konzils hat Papst Johannes Paul II. bei seinem

Besuch in

Mainz 1980 gesagt, der eigentliche Dialog zwischen Juden und Christen sei der Dialog der

heutigen Kirche mit dem heutigen Judentum. Gottes Wirken im Volk des „ungekündigten

Alten Bundes“ in Geschichte und Gegenwart, in religiöser und säkularer Gestalt verdient weit

mehr Wertschätzung von Christen und Kirche.

 

Hanspeter Heinz, Prof. em., wurde 1983 auf den Lehrstuhl für Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg berufen. Er ist Mitglied der Vollversammlung des ZdK sowie im Senat der Universität Augsburg und leitet den 1971 gegründeten Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken.

 

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