"WAS IST NUR LOS IN DEUTSCHLAND?" - Juden in Deutschland heute

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Artikel veröffentlicht: Saturday, 01. September 2012, 17:07 Uhr

WELCHE WIRKLICHKEIT?

Der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland nimmt pointiert zu den jüngsten Entwicklungen in Deutschland Stellung, wie sie jüdisches Leben, entgegen den bekundeten Verlautbarungen offizieller Rhetorik, mehr und mehr negativ betreffen. Der gewalttätige Angriff auf einen Berliner Rabbiner und seine Tochter in dieser Woche ist mehr als nur aktueller Anlass und bisheriger Höhepunkt.

Dieter Graumann leitet seinen Beitrag mit einer Frage ein, die ihm von jüdischen Freunden in aller Welt "viel zu häufig gestellt" werde: "Was ist nur los in Deutschland ?".

Diese Frage (auch) als nichtjüdische Bürgerinnen und Bürger dieser Republik - also in der großen Mehrheit - zu hören, zu debattieren und zu verstehen suchen, wäre das nicht akute öffentliche Aufgabe, auch als Ausdruck der Solidarität mit den Juden, die hier leben? Dass Antisemitismus nicht zuletzt von politisch-gesellschaftlichen Stimmungen und Atmosphären abhängig, gar selbst als Stimmung und Atmosphäre gelten muss (so werden Ungewissheiten und Ängste in Verschwörungsdenken negativ auf Juden/Israel als imaginierte Ursache allen Übels zentriert) , das wollten wir doch aus der Geschichte gelernt haben. Gestern war es der Hinweis eines bedeutenden Schriftstellers, Israel werde die Welt in einen Krieg hineinziehen und hege Absichten der Vernichtung gegen das iranische Volk, heute werden Beschneidungsrituale pseudoanalytisch als jüdisch "Barbarisches" öffentlich gekennzeichnet und das "Thema" Islam und Judenhass gilt nach wie vor als nahezu unberührbar und bedürfe schon gar nicht der Thematisierung in den öffentlichen Institutionen. Es ist ja unbestreitbar richtig, wenn sich islamische Organisationen von dem Angriff auf den Berliner Rabbiner und seine Tochter distanzieren. Aber was denn auch sonst? Was wäre denn die Alternative zu einer solchen Distanzierung? Der weit verbreitete Alltagshass auf die Juden und Israel bleibt davon unberührt.  

Die an Dieter Graumann gerichtete Frage "Was ist nur los in Deutschland?" wird bezogen auf die sog. Euro-Krise auch allgemein gestellt. Auch als "Identitätskrise Europas" lassen sich Bücher, Interviews und Artikel vielfach zitieren.  Die an Dieter Graumann gerichtete Frage deutet aber eine Tiefendimension deutscher und europäischer Krisenentwicklung und Verunsicherung an, die - wie oben gesagt - zumindest ausgetauscht, in Annnäherungen verstanden und auch auf  mögliche Folgen und Perspektiven für jüdisches Leben in Deutschland Thema werden muss. 

Neigt die nichtjüdische Mehrheit nicht zu sehr dazu, derartige Herausforderungen als "Sturm im Wasserglas" oder Panikmache zu kennzeichnen und so letztlich zu ignorieren, um dann ihr more of the same zu betreiben? Letztlich ist das so, als gebe es neue Entwicklungen und Verunsicherungen nicht. Alles schon da gewesen, alles für sich genommen "schlimm", aber dann doch "halb so wild". "Verblüffungsresistenz" nannte das Alain Finkielkraut, der französische Philosoph, schon vor knapp zehn Jahren angesichts der damaligen antijüdischen Ausschreitungen  in Paris. Oder landen wir wieder bei den selbstbestätigenden Forderungen, man müsse im Hinblick auf Integration "mehr" an pädagogischen Angeboten machen? Wann ist denn Erziehung/Bildung so weit, dass die Mindestmassstäbe zivilen Verhaltens nicht nur "gewusst", sondern praktiziert werden? Ignoriert der immer richtige Hinweis auf "man muss mehr tun", v.a. im Hinblick auf Bildung, Aufklärung, moralischen Appellen, nicht reales Verhalten, Ereignisse und Entwicklungen, die diesen Ansprüchen zuwider laufen? Das macht die genannten und weitere Ansprüche nicht falsch - aber eben auch vielleicht realitätsuntauglich. Denn auch der Aufklärungsappell bleibt immer richtig.

Eine in unserem Kontext entscheidende Frage ist, ob es wirklich auch nur einen Hauch weniger an Antisemitismus bringt, wenn über Judentum aufgeklärt wird, weil hierüber zu wenig Wissen vorhanden sei?

Vielleicht sind es ja eher die nichtjüdischen Bürger, die sich über sich aufklären müssen? Nicht als Retourkutsche ("sie oder wir?") ist diese Frage gemeint, sondern buchstäblich: Wie lernt es eine Gesellschaft  - die dann (!) das Etikett "zivil" verdient - sich in all ihren unvermeidlichen Verunsicherungen der modernen Welt selbst so zu beherrschen, dass die ebenso unvermeidlichen Frustrationen des politischen, gesellschaftlichen, individuellen Lebens nicht gegen Juden ausgesprochen und ausagiert werden "müssen"? Muss sich die Zivilität unserer Gesellschaft nicht gerade im "schlechten Wetter" der Weltenwticklung als solche erweisen? Antwort: Im Prinzip - ja!

Und ist der Eindruck falsch, dass sich jüdische Wahrnehmung der Wirklichkeit und nichtjüdische Wahrnehmung mehr und mehr voneinander weg bewegen?  Gilt jüdische Weltwahrnehmung den Nichtjuden nicht mehr und mehr als z.B. "Holocaust-obsessiv"? Was aber, wenn dieses Etikett vielleicht eher zur Abwehr und Verleugnung jüdischer Realitäten durch Nichtjuden dient, zumal diese Erfahrungen in nichtjüdischem Alltag so nicht vorkommen? Schliesslich trifft Antisemitismus reale Juden. Nein, nicht die Realitäten eines "zweiten Holocaust" sind hier gemeint, aber Verunsicherungen jüdischerseits, die sich die Mehrheit so wahrzunehmen verwehrt - oft gar mit dem kopfstehenden Hinweis auf die "Lehren aus der Geschichte". Was erfordert eine solche Beobachtung - so sie nicht ganz falsch ist - für den viel gefeierten und beschworenen Dialog und die Solidarität? Was erfordert diese Beobachtung von den Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit? Was ist nur los in Deutschland?

Karl H. Klein-Rusteberg, Geschäftsführer und Redaktion

 

DER TAGESSPIEGEL
01. September 2012 - 08:42 Uhr

http://www.tagesspiegel.de/meinung/andere-meinung/gastbeitrag-judentum-in-hinterzimmern-niemals/7081894.html

 

JUDENTUM IM HINTERZIMMER? NIEMALS!
Von Dieter Graumann

Die Attacke auf einen Rabbiner in Berlin war nicht nur ein boshafter Angriff auf das Judentum, er war auch ein Angriff auf uns alle, schreibt Dieter Graumann. Die Juden in Deutschland werden sich dadurch aber nicht einschüchtern lassen, prophezeit er.


"Was ist nur los in Deutschland?“ Diese Frage wird mir seit Wochen von jüdischen Freunden aus aller Welt viel zu häufig gestellt. Leider gibt es für diese Frage aktuelle Anlässe. Denn die Angriffe auf jüdisches Leben haben zugenommen. Die Grenze des Erträglichen ist auch für mich selbst allmählich erreicht – und zwar nicht, weil die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft etwa tatsächlich zu bezweifeln wäre, sondern weil ich nun gerade jetzt erst recht auf eine positive, blühende jüdische Zukunft in Deutschland setze.
Erst vergangenen Dienstag ist mitten in unserer Hauptstadt ein Rabbiner angegriffen, widerlich beleidigt und brutal zusammengeschlagen worden, und das sogar vor den Augen seiner kleinen Tochter.
Entsetzen, Schock, Wut – das drückt aus, was ich empfand, als ich von diesem abscheulichen Angriff, der aus purem Antisemitismus geschah, erfuhr.

 

Die Attacke war nicht nur ein boshafter Angriff auf das Judentum, er war auch ein Angriff auf uns alle, auf unsere Werte von Freiheit, Vielfalt und Toleranz. Aber wenn wir beim Thema Toleranz sind: Wie sieht es damit in unserer Gesellschaft aus? Gerade in der Beschneidungsdebatte erkennen wir auf der Seite der Beschneidungsgegner zu oft einen unsensiblen und schlichtweg verantwortungslosen Ton. Denn: Wenn Juden und Muslimen lauthals vorgeworfen wird, sie würden mit dem Beschneidungsakt ihren Söhnen „sexuelle Gewalt“ antun und ihnen mutwillig Schmerz zufügen, wird ein Klima von Intoleranz und Ausgrenzung erzeugt.
 

Warum wird diese Debatte nirgendwo sonst auf der Welt von Beschneidungskritikern mit einer so unerbittlichen, schroffen Härte und mit derart rüdem Anklageton geführt wie hier in Deutschland? Ich habe Verständnis dafür, dass gerade dieses Thema kritische Fragen, teils Unverständnis und zuweilen auch emotionale Reaktionen auslöst. Wo aber bleiben dabei aber Toleranz und Respekt gegenüber Minderheiten? Lasst uns über Beschneidung reden – aber im Dialog und nicht durch einseitige, besserwisserische Vorhaltungen, die zwei Weltreligionen zu kriminalisieren versuchen.
Schließlich handelt es sich nicht um einfach irgendeine Tradition, sondern um einen elementaren Bestandteil des Judentums. Kein Gebot wird so universell befolgt wie das der Beschneidung. Ausdrücklich will ich daher die Resolution des Bundestags vom 19. Juliloben, die ein Gesetz ankündigt, das die Rechtssicherheit herstellt und signalisiert: Jüdisches und muslimisches Leben sind hier erwünscht. Was ich mir aber ebenso wünsche, ist eine emotionale Sicherheit, die aus der Mitte der Gesellschaft kommen sollte. Unkenntnis kann überwunden werden, Unverständnis muss aber erst überwunden werden wollen. Wer im Vorfeld Barrieren aufstellt, wird ein Miteinander ohne Hürden bestimmt niemals erreichen können.
Das gilt auch für den Überfall in Berlin. Der Hass, der sich immer öfter in roher Gewalt ausdrückt, hat seinen Ursprung dort, wo Feindschaft gepredigt oder zugelassen wird. Hier gibt es noch viel, was zu verbessern ist. Es liegt an uns allen, unseren Kindern den Wert von Vielfalt zu vermitteln.
Wir Juden in Deutschland werden uns jedenfalls ganz scher nicht einschüchtern lassen. Und einigen jüdischen Stimmen, die raten, man solle bestimmte Viertel besser meiden oder seine Glaubenssymbole nicht öffentlich tragen, oder den Stimmen aus Israel, die jüdisches Leben in Deutschland sogar generell infrage stellen, denen sage ich ganz deutlich: Nein! Ich selbst werde diesen Rat bestimmt nie befolgen! Ich lasse nicht zu, dass mir No-go-Areas auferlegt werden. Ich lasse nicht zu, dass wir unser Judentum nur im Hinterzimmer ausleben dürfen – ganz im Gegenteil: Wir werden unsere neue, positive jüdische Zukunft in diesem Land weiter voller Leidenschaft aufbauen. Wir Juden verstecken uns nicht, und wir haben keine Angst. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Wer darauf wartet, der muss ewig warten.

Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.
 

 

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HERBERT RUBINSTEIN schrieb am Wednesday, 05. September 2012, 12:15 Uhr

K-H. Rusteberg, mein essener Kollege in der dortigen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit,hat die für uns Juden alarmierende
Entwicklungen in der deutschen Gesellschaft klar benannt. Unser Deutscher Koordinierungsrat und alle angeschlossenen Gesellschaften sind jetzt gefragt, ihre Stimmen zu erheben und das Miteinander zu zeigen. Dr. Dieter Graumann hat es auf den Punkt gebracht: Freiheit und Tolleranz sind nicht nur herausragende Werte unseres Grundgesetzes, es gilt diese auch zu leben und umzusetzen. Ist schon wieder alles "egal", wie schon mal zerstörerisch erfolgt? Mensch, sei ein Mensch und schau nicht weg, bringe Dich ein für Menschlichkeit.


  Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit - Universitätsstrasse 19, 45141 Essen