SCHON WIEDER UTOPIA?

Artikel veröffentlicht: 29.04.2011, 14:19 Uhr

Ins deutsche Niemandsland?

Dass (selten) in den deutschen, häufiger in den internationalen Medien das Stichwort vom "Sonderweg", im Blick auf die Enthaltung der deutschen Delegation im UN-Sicherheitsrat zur Entscheidung über den Libyen-Einsatz, fällt, das sollte auch diejenigen, die sich im christlich-jüdischen Gespräch engagieren, nicht unberührt lassen. Wurden die Abkehr von Isolation und Neutralismus in 1989/90 noch feierlich gelobt und bestätigt, so fragen zahlreiche Kommentatoren jetzt, wie und wo der Weg lang gehe. Das Vertrauen europäischer Nachbarn und weiterer Partner ist jedenfalls erschüttert.

Und da es nicht zuletzt die Juden in Deutschland waren, die den "Wegezoll" des Sonderwegs unendlich teuer zu bezahlen hatten (um es sehr euphemistisch zu umschreiben), sind diese Entwicklungen auch für diejenigen von Belang, die das christlich-jüdische Verhältnis nicht als kulturalistischen Selbstzweck  missverstehen, sondern - wie auch in der Satzung der GCJZ in Essen  formuliert - als einen Beitrag zur stabilen Demokratie praktizieren.

Nunmehr also werden sich die vielbeschworenen Lehren aus der Geschichte zu bewähren haben. Es wird sich erweisen, welches denn die Lehren sind, die wirklich gezogen wurden.  Das christlich-jüdische Verhältnis: spannend!  

Es folgt ein Auszug und link zum Titelbeitrag der jüngsten Ausgabe der JÜDISCHEN ALLGEMEINEN zum Thema.

-kr-

Jüdische Allgemeine | 21.04.2011 | Jörg Lau | http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/10250

Sonderweg

Draußenpolitik

Vom Libanon nach Libyen: Entdeckt Deutschland den Nationalpazifismus als Größe außenpolitischen Handelns wieder?

Wie sieht Deutschland seine Rolle in der Welt? Bei unseren Freunden und Verbündeten ist der Eindruck entstanden, die Deutschen lebten mit zwei Begriffen der Globalisierung, die sie bequem auseinanderhalten. Da ist einerseits die wirtschaftliche Öffnung und Verflechtung, an der prächtig verdient wird. Andererseits gibt es die »böse« Globalisierung, die der Gefahren und der Verantwortung, bei der immer die anderen zuständig sind. Die deutsche Enthaltung bei der Libyen-Resolution bestärkt diesen Verdacht.

Außenminister Guido Westerwelle hat erklärt, warum die Bundesrepublik unter keinen Umständen an der Intervention gegen Muammar al-Gaddafi teilnehmen dürfe: Man wolle nicht auf eine »schiefe Ebene« geraten. Weniger diplomatisch ausgedrückt: Wer »Schutz der Zivilbevölkerung« sagt, wie es in der UN-Resolution heißt, meint Krieg. Und da hält sich Deutschland eben raus.

Humanitäre Hilfe Es dauerte allerdings nur einen Monat, bis sich die unsterbliche Weisheit Herbert Wehners bewahrheitete: Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen. Um seine Partner in Nato und EU nicht vollends im Regen stehen zu lassen, hat Deutschland nun humanitäre Hilfe für Libyen zugesagt – notfalls auch militärisch abgesichert.

Diese Beteiligung soll aber in Westerwelles Worten »etwas völlig anderes als die an einem Kriegseinsatz« sein: »Humanitäre Hilfe ist neutral, sie schaut nur auf die Opfer.« Das ist bemerkenswert: Deutschland schreibt sich eine neutrale Rolle zu. Neutralität gegenüber Gaddafi, der sein eigenes Volk mit Streubomben beschießt? Bei jeder Gelegenheit betont Westerwelle, dass der »Diktator« seine Legitimität verwirkt habe, als er Truppen gegen sein eigenes Volk einsetzte.

Deutschlands Enthaltung will zu diesen starken Worten nicht so recht passen. Grundsätzlich gefragt: Kann ein in Europa so wichtiges Land wie Deutschland sich in Äquidistanz üben? Nachbarn und Alliierte sind zumindest alarmiert. Kehrt Berlin zurück auf den Sonderweg, der schon einmal in die Isolation führte? Das zwar (noch) nicht. Aber ein Pfad ist schon mal getreten. Und der führt ins Abseits.

Afghanistan Merkwürdig: Kein deutscher Chefdiplomat war je so unbeliebt wie Westerwelle, obwohl doch seine ganze Außenpolitik auf Popularität zielt: für ein konkretes Abzugsdatum aus Afghanistan, für die Abrüstung der letzten US-Atomraketen hierzulande, für einen Sitz im UN-Sicherheitsrat und gegen eine Beteiligung an der Libyen-Intervention.

Die Anfänge dieser Politik reichen zurück in Westerwelles Oppositionszeit. 2006 stritt er gegen den Einsatz der deutschen Marine vor dem Libanon, wo unter UN-Mandat verhindert werden sollte, dass die Hisbollah weiter mit Waffen gegen Israel versorgt werden konnte. Und das, obwohl sogar der jüdische Staat einen solchen Einsatz guthieß. Aus demselben Geist hat Westerwelle sich früh gegen eine Flugverbotszone in Libyen festgelegt. Nun liegt der Makel auf der deutschen Außenpolitik, man hätte bei einem möglichen Massaker in Bengasi zugesehen.

Es führt also eine Linie von Libanon bis Libyen. Nationalpazifismus wird offenbar wieder zur politischen Größe: Deutschland hält sich raus und zieht sich raus, wo immer es geht, im Zweifel auch auf die Gefahr hin, Freundschaften und Bündnisse zu gefährden, die bisher gerade für liberale und konservative Außenpolitiker als unverzichtbar galten.

Gaddafi Dabei geht es »nur« um Libyen. Das nordafrikanische Land ist in der Region nicht von vorrangiger strategischer Bedeutung – wenn der Tyrann und Terroristenfreund Gaddafi erst einmal weg ist. Gerade deshalb wird die deutsche Neupositionierung in diesem Fall zu Recht so aufmerksam beobachtet. Was bedeutet sie auf anderen außenpolitischen Feldern?

Schon im Herbst könnte sich eine Lage entwickeln, die Deutschland auf eine viel schwerere Belastungsprobe stellt. Die Palästinensische Autonomiebehörde droht mit einer einseitigen Souveränitätserklärung. Die Planspiele laufen schon, in denen die Folgen durchexerziert werden. Früher oder später würde, wenn es so weit kommt, der Ruf nach einer internationalen Friedenstruppe laut werden.

Was wird Deutschland dann aus seinem Kapital als »ehrlicher Makler« machen, dessen es sich so gerne rühmt? Wird die Bundesregierung aus seiner Glaubwürdigkeit auf beiden Seiten des Konflikts die Pflicht zum Handeln folgern? Oder gibt es ein Nein aus dem Geist der Neutralität? Denn gefährlich und unpopulär wird auch diese Mission. Eigenartig, dass man sich ausgerechnet bei einer konservativ-liberalen Regierung über die Antwort nicht im Klaren sein kann. Nur eines ist gewiss: Eine Enthaltung wird es nicht geben können.

Der Autor ist außenpolitischer Korrespondent der »ZEIT« in Berlin.
 


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