WAS IM SCHWEIGEN LAUERT - Anlässlich der poetischen Aufforderung, Israel möge sich für den Weltfrieden opfern

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Artikel veröffentlicht: 11.04.2012, 00:05 Uhr

http://www.welt.de/print/wams/article106163272/Was-im-Schweigen-lauert.html

 

Welt am Sonntag

8. April 2012

Was im Schweigen lauert

Der Fall Grass beweist, dass die Deutschen

das Trauma von 1945 noch nicht überwunden haben.

Von Hans Ulrich Gumbrecht

Für eine Woche hat Günter Grass mit seinem "Gedicht" über Israel und den Iran die nationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das sollte mehr als genug sein, zumal dieser auch literarisch dürftige Text eines früher großen Autors vielfach kompetent analysiert und selbst in jener deutschen Tageszeitung, die ihn veröffentlichte, mit überzeugenden Gründen verurteilt worden ist.

Auf den Fall zurückzukommen, bevor man seinen Anlass vergisst, ist trotzdem nötig - und zwar wegen eines Grunds, der (aus Verlegenheit vielleicht) in der schnell aufschießenden Debatte kaum erwähnt worden ist: Dem Inhalt nach hat Grass ja nur geschrieben, was offenbar die Mehrheit der Deutschen, die Mehrheit der deutschen Intellektuellen jedenfalls, genau wie er sieht.

Warum ich mir eine solche Behauptung erlaube? Meine eigene Ansicht zu den Konflikten im sogenannten "Nahen Osten" ist der von Grass diametral entgegengesetzt, so weit, dass ich zumindest die Diskussion über einen Präventivschlag Israels für durchaus legitim halte, und ich rede darüber derzeit fast täglich mit deutschen Intellektuellen. Die Reaktionen sind fast ohne Ausnahme Reaktionen der Ablehnung und sogar der Entrüstung (was sie übrigens nicht von der Position vieler jüdischer und sogar israelischer Intellektueller unterscheidet - aber dieses ganz andere Problem soll hier nicht mein Problem sein).

Noch eine Vorbemerkung, um Missverständnisse auszuschließen. Natürlich würde ich mich, wenn nötig mit allen Konsequenzen, dafür engagieren, dass Grass (und jeder andere) solche - mich empörenden - Ansichten äußern darf. Das folgt aus der in Deutschland nicht immer mit all ihren Ansprüchen verstandenen Grundregel jener Struktur, die wir "Öffentlichkeit" nennen. Sie impliziert allerdings auch, dass Grass den von ihm geforderten Anspruch nicht hat, gegen den Vorwurf des Antisemitismus in Schutz genommen zu werden.

Die Basis der Mehrheitsmeinung, in die sich sein Text einschreibt, ist ein radikaler Pazifismus, das heißt die Vorgabe, dass militärische Auseinandersetzungen um - wirklich - jeden Preis zu vermeiden sind. Solcher Pazifismus mag eine Option, vielleicht ja sogar eine ehrbare Option für Individuen sein, aber er kann und darf nicht Staatsräson werden. Denn dann maßten sich Politiker an, nach der Erschöpfung aller Möglichkeiten des Verhandelns dem Leben der Bürger ihres Landes den bestmöglichen Schutz gegen Gewalt von außen zu verweigern. Um eben diese Illegitimität des Pazifismus ging es vor einigen Jahren in der "Regensburger Rede" Benedikts XVI., die nicht zufällig weltweiten Intellektuellenprotest ausgelöst hat.

Ich befürchte, es gibt eine Asymmetrie zwischen dem Alltags-Pazifismus einer Mehrheit von Bürgern und der Staatsräson der Regierungen in der Bundesrepublik Deutschland, von denen sich keine seit 1949 konsequent dem Pazifismus verschrieben hat. Forderungen in dieser Hinsicht hat es freilich immer gegeben, und sie haben sich nicht selten auf Deutschlands "Erfahrung" in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts berufen.

Günter Grass macht sich zum Sprecher dieser Tendenz. In der Außenpolitik der gegenwärtigen Bundesregierung manifestiert sich allerdings weit mehr als nur eine Gegenposition. Wenn die Kanzlerin feststellt, dass "die Sicherheit Israels zu schützen ein Teil der Staatsräson Deutschlands" ist, dann impliziert sie, dass deutsche Geschichte nichts weniger sein kann als eine Rechtfertigung für den radikalen Pazifismus. Deshalb leitet sie aus ihr die spezifische Verpflichtung zu einem - im Notfall - militärischen Engagement zugunsten Israels ab. Ich glaube, darüber sollte in der Tat diskutiert werden, auch wenn ich Angela Merkels Geschichtsdeutung teile und die mit ihr übereinstimmende, aber anders motivierte Option meiner Regierung, der amerikanischen Regierung, unterstütze.

Doch warum kann ich den banalen Text von Grass nicht so schnell und so einfach vergessen, wie ich es mir wünschte - weil diese fortgesetzte Aufmerksamkeit dem Autor ja das gibt, was er am wenigsten verdient und wohl am meisten gewünscht hat? Wie skandalös es ist, dass ausgerechnet er sich in der Rolle des (automatisch mit der Aura von Moralität ausgestatten) Opfers inszeniert und einen "nie zu tilgenden Makel seiner Herkunft" anruft, wo allein der Selbstverweis auf seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS akzeptabel gewesen wäre, ist schon herausgestellt worden.

Was mich vor allem irritiert, ist die zur Gewissheit werdende Intuition, dass das "Schweigen", das Grass mit retrospektivem Selbstmitleid schon im Titel seines Textes bricht, jenes Schweigen ist, das sich Nationalsozialisten und vor allem Mitglieder der SS nach dem 8. Mai 1945 auferlegt hatten. Sie taten es nicht ohne Druck seitens des neuen Staats und der alliierten Besatzungsmächte, aber vor allem, um sich Karrieren, Einkünfte und Prestige zu sichern. Die nationale Vergangenheit und ihre unauslöschbare Schuld sollten latent werden, Teil dessen, was sie "hinter sich lassen" wollten - und was für die nach ihnen in Deutschland Geborenen als Unausgesprochenes umso mehr präsent blieb.

Ein im konkreten Sinn Mitschuldiger wie Grass wurde Sozialdemokrat, stellte jeden, den er der Sympathie für die andere große Volkspartei der Bundesrepublik verdächtigte, in das dunkle Licht des Neofaschismus - und überließ uns Nachgeborenen die unmögliche Aufgabe, Schuld für etwas zu übernehmen, das besiegt und vermeintlich aus der Welt geschafft war, bevor wir auf die Welt kamen. Indem Grass und viele seiner politischen Generationsgenossen sich als Patrioten verstanden, nahmen sie uns die Möglichkeit, Patrioten zu werden.

Es gibt konkrete Anlässe und Gründe zu behaupten, dass mit dem Brechen des Schweigens von Grass und anderen Deutschen im neunten Lebensjahrzehnt (Martin Walser kann es ja nicht lassen, mit einer ähnlichen Rolle zu spielen, obwohl er schon aus Altersgründen viel weniger zu verbergen hatte) eine für den Nazismus typische Mentalität zum Vorschein kommt, die sie geschickt in Latenz gehalten hatten.

Ein deutliches Symptom in dieser Hinsicht ist das Wort "Erstschlag", das in der fünften Zeile des Texts auftaucht. Abgesehen davon, dass es ja möglicherweise Bedingungen geben könnte, unter denen "Erstschläge" eine Berechtigung hätten, gehörte ihre Assoziation mit den Gegnern zum kontinuierlich ausgespielten Repertoire der nationalsozialistischen Kriegsrhetorik. Wenn immer das deutsche Militär seit 1939 andere europäische Nationen überfiel, waren diese Invasionen als Antworten auf "Erstschläge" inszeniert.

Vor allem aber kultivierten die Nazis eine Weltsicht, in der - wie bei Grass - pseudomoralische Über-Plausibilität objektive politische Komplexität unterlief. Eroberungskriege sollten die Deutschen als - ihre Vergangenheit moralisch korrigierende - "Grenzbegradigungen" verstehen (so wie bald schon Rückzug und Niederlage als "Frontverkürzungen" beschrieben wurden). Eben in diesem Stil wird ohne Begründung das (angebliche) Nuklearpotenzial Israels kontrastiert mit einer betonten Ungewissheit hinsichtlich der Ziele nuklearer Forschung und Produktion im Iran und ist von der Möglichkeit "unbehinderter und permanenter Kontrolle" die Rede, als ob sie eine reale politische Möglichkeit sei. Weil Günter Grass sein Schweigen bricht, kann solche intellektuell schmuddelige Plausibilität aus der Latenz vieler Jahrzehnte auferstehen, verkleidet als Vernunft eines radikalen Pazifismus.

Aber während der Wunsch, neue Texte von Günter Grass nicht mehr lesen zu müssen, möglicherweise bald schon, noch zu meinen Lebzeiten hoffentlich, in Erfüllung gehen wird, während wir ihm nicht den Gefallen tun sollten, weiter Meinungen zu diskutieren, die nicht diskutierenswert sind, zeichnet sich ein Verschwinden ähnlicher Mentalitäten bei jüngeren Deutschen keinesfalls ab.

Hat diese in mehreren Dimensionen so eindrucksvoll demokratisch gewordene Nation den Nazismus doch nicht hinter sich gelassen? Das ist ihr ohne Zweifel gelungen, was die Stabilität der demokratischen Institutionen angeht. Aber vielleicht ist die Frage falsch gestellt.

Wir gehen immer noch davon aus, dass wir uns in eine offene Zukunft hineinbewegen, die wir in der Gegenwart gestalten können - obwohl die Zukunft, die wir im Alltag erleben, von zahlreichen (ökologischen, wirtschaftlichen, demografischen) Katastrophengewissheiten besetzt scheint, die sich auf uns zubewegen. Vielleicht leben wir also in einer Konfiguration von Zeit, wo auch die Vergangenheit nicht mehr hinter uns verschwindet, wo vielmehr das Vergangene gegenwärtig bleibt und wiederkehrt, sobald das Schweigen gebrochen und die Latenz aufgehoben wird. Der akkumulierte Antisemitismus aus der Vergangenheit traf die Twin Towers in New York am 11. September 2001. Damit der Antisemitismus von Günter Grass den radikalen Pazifismus so vieler Deutscher nicht beleben kann, sollten wir aufhören, von seinem Gedicht zu reden.

Der Autor, 1948 in Würzburg geboren, lehrt Komparatistik in Stanford. Im Sommer erscheint bei Suhrkamp "Nach 1945: Latenz als Ursprung der Gegenwart".

 

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