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Artikel veröffentlicht: Saturday, 08. October 2011, 16:54 Uhr

DER WESTEN - TRANSATLANTISCH: Der alte Okzident, Virginia und Paris

Nachdem vor wenigen Wochen der zweite Band der "Geschichte des Westens" des Historikers Heinrich August Winkler veröffentlicht wurde, gab es - nicht allein aus Gründen der nahenden Frankfurter Buchmesse - bereits zahlreiche Besprechungen in den Printmedien und im Rundfunk.

Die LITERARISCHE WELT veröffentlicht heute, 8. Oktober 2011, ein Gespräch zwischen dem Redakteur Jacques Schuster und dem gen. Autor, der zu den hervorragendsten deutschen Historikern der Gegenwart gehört, unter dem Titel "Was ist das überhaupt: Der Westen?" (siehe unten). Selbstverständlich bedarf es auch der Rückfragen an das hier empfohlene Buch. Die Frage nach Bedeutung und Substanz eines heutigen Begriffs von Nationalstaat sind ebenso umstritten, wie die von Winkler repräsentierte Gewissheit, Deutschland habe mit 1989 das "Sonderweglerische" hinter sich gebracht. Weitere Fragen wären nötig - und sind möglich! Doch die "Geschichte des Westens" bleibt nicht nur ein umfangreiches, sondern wird auch ein großes Werk!

Die Frage nach Geschichte und gegenwärtigem Bestand dessen, was "der Westen" genannt wird, ist für die, die sich mit dem christlich-jüdischen Verhältnis in Deutschland/Europa konfrontieren, kein Nebenschauplatz, sondern DAS "Terrain" auf dem das christlich-jüdische Gespräch stattfindet. Wie sicher und frei sich der Westen zeigt, ist nicht zuletzt an dem Verhältnis von Christen und Juden im Westen abzulesen. Schließlich haben sich die beiden großen Kirchen selbst nach 1945 jeweils sehr unterschiedlich, zögerlich und - zumindest die evangelische - sehr spät dem angeschlossen, was im Nach-45er-Deutschland der Bundesrepublik schon früh "Westbindung" hieß.

Nur im Koordinatenraum gesicherter westlicher Werte, dem Primat der Freiheit, kann dem Antisemitismus mittels öffentlicher Kontrolle durch die freie Kontroverse Einhalt geboten werden - mehr oder weniger. Der Westen ist nicht ohne Antisemitismus. Aber die Sicherheit jüdischen Lebens, seiner Artikulation und Religion bleiben allein in der Kultur des politischen Westens so gewahrt, wie es sonst in keiner Zivilisation möglich war und ist. Wenn die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit auch eine politische Aufgabe haben, dann ist sie in dem hier formulierten Kontext angedeutet und auch die Solidarität mit Israel, als jüdischem Staat, findet hier eine ihrer Begründungen. Und so ist die Gefährdung Israels eine des Westens.
Karl H. Klein-Rusteberg
 

DIE LITERARISCHE WELT
Jacques Schuster
8. Oktober 2011

WAS IST DAS ÜBERHAUPT: DER WESTEN?
Gehört Deutschland mental dazu?
Ein Gespräch mit Heinrich August Winkler über unser Land, Europa und sein neues Buch

Literarische Welt: Herr Winkler, in diesen Tagen ist der zweite Band Ihrer "Geschichte des Westens" über die Zeit der Weltkriege erschienen. Was bedeutet "Westen" überhaupt für Sie?
Heinrich August Winkler: Es ist üblich geworden, von europäischen Werten zu sprechen und die Europäische Union als Wertegemeinschaft zu bezeichnen. Das Letztere ist richtig, aber die Werte, auf die wir uns heute in Europa beziehen, sind Werte, die uns mit den Vereinigten Staaten verbinden. Es sind westliche Werte. Diese Werte sind das Ergebnis einer transatlantischen Kooperation. Auf britischem Kolonialboden, in Virginia, ist im Juni 1776 die erste Erklärung der Menschenrechte veröffentlicht worden. Dann sind diese Ideen über den Atlantik gewandert und haben Eingang gefunden in die Allgemeine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung. Auch hier ist der amerikanische Einfluss mit Händen zu greifen. Lafayette, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf Seiten der Kolonisten gekämpft hatte, war einer der Hauptinitiatoren dieser Menschenrechtsinitiative. Thomas Jefferson war damals Botschafter in Paris. Die beiden haben eng zusammengewirkt. Im geografischen Sinn ist Europa nie eine Wertegemeinschaft gewesen. Der alte Okzident hat die frühen Gewaltenteilungsprozesse schon im Mittelalter erlebt: die Trennung von geistlicher und weltlicher, von fürstlicher und ständischer Gewalt. Das byzantinisch geprägte Europa konnte an diesem Gewaltenteilungsprozess nicht teilhaben. Wenn ich vom Westen spreche, dann meine ich zum einen den alten Okzident, der die Gewaltenteilung hervorgebracht hat, und zum anderen das Erbe der amerikanischen und der französischen Revolution.

Literarische Welt: Leszek Kolakowski hat gesagt, Europa sei die Fähigkeit, sich beständig selbst in Frage zu stellen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann müssten wir anstelle von "Europa" der Westen sagen.
Heinrich August Winkler: Richtig. Dieses normative Projekt des Westens, also die Summe der Errungenschaften der politischen Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts, bestehend aus den unveräußerlichen Menschenrechten, der Idee der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der repräsentativen Demokratie, dieses normative Projekt des Westens ist etwas, woran sich der Westen fortan selbst messen lassen musste. Von Anfang an gibt es gravierende Abweichungen zwischen politischer Praxis und normativen Prämissen. Denken Sie nur an die Sklavenhaltung in Amerika, die der Erklärung der Menschenrechte widersprach. Diese Spannung zwischen Werten und der Wirklichkeit ist ein Grundzug in der Geschichte des Westens. Das Projekt diente als Korrektiv der Praxis. Der andere Gedanke, der mich beschäftigt, ist der der Ungleichzeitigkeit der Durchsetzung dieser Werte im alten Westen selbst. Warum hat Deutschland sich so lange gegen die politische Kultur des Westens gewehrt? Warum haben die traditionellen Eliten die politischen Konsequenzen der Aufklärung nicht mit vollzogen, obwohl Deutschland doch einen maßgeblichen Anteil an den Ideen der Aufklärung hatte? Das Dritte Reich war der Höhepunkt der deutschen Auflehnung gegen das normative Projekt des Westens. Das ist ein zentrales Thema des zweiten Bandes meiner Geschichte des Westens.

Literarische Welt: Sie vertreten die These, Deutschland sei nach der Wiedervereinigung im Westen angekommen, weil mit der Wiedervereinigung die deutsche Frage gelöst worden sei und Deutschland nun erstmals als Ganzes im Westen verankert wurde. Stimmt die These, wenn man sich mit der Mentalität beschäftigt? Denken Sie an die Debatte, die wir in Deutschland vor Ausbruch des Irak-Krieges hatten. Da kamen auf der rechten wie der linken Seite plötzlich wieder höchst sonderbare Debatten über die Frage nach der deutschen Identität hoch. Kurz gefragt: Sind wir Deutschen mental westorientiert?
Heinrich August Winkler: Die deutsche Frage ist 1990 in Gestalt der Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit gelöst worden. "Einheit und Freiheit" - das war die Parole der 1848er Revolution. 1990 ist diese Forderung Wirklichkeit geworden. Sicherheitspolitisch ist die deutsche Frage ebenfalls gelöst worden, nämlich durch die Mitgliedschaft Deutschlands im westlichen Bündnisgefüge. Es gibt keine offenen Grenzfragen mehr. Dass vieles von dem Erbe der Zeit vor 1990 nachwirkte, ist richtig. Gerade im Irak-Krieg von 1991 ließ sich beobachten, wie schwierig es für die Deutschen war, den Zuwachs an Souveränität zu akzeptieren, der mit der Wiedervereinigung verbunden war. Wir mussten uns außerdem von der Vorstellung verabschieden, dass die Bundesrepublik eine postnationale Demokratie unter Nationalstaaten sei. Das wiedervereinigte Deutschland ist ein postklassischer Nationalstaat wie die anderen Mitgliedstaaten der EU auch. Das heißt: Diese Staaten sind keine isolierten, klassischen Nationalstaaten, wie sie noch in der Zwischenkriegszeit bestanden hatten. Postklassische Nationalstaaten sind bereit, Teile ihrer Hoheitsrechte gemeinsam auszuüben oder auf supranationale Einrichtungen zu übertragen. An diesen Zustand, dass wir nicht weniger souverän sind als - sagen wir - Frankreich, mussten wir uns erst gewöhnen. Das hat Zeit erfordert. Außerdem sollten wir nicht vergessen, wie sehr die Propaganda der SED, etwa gegen die Nato, nachgewirkt hat. In der Summe kann man dennoch feststellen: Unsere Westbindung ist als solche nicht mehr umstritten. Die tragenden Kräfte der Republik stellen weder unsere Mitgliedschaft in der EU noch in der Nato in Frage.

Literarische Welt: Ich bin skeptischer als Sie. Denken Sie doch an die beständige Abneigung einer Mehrheit in Deutschland gegen die repräsentative Demokratie. Man glaubt noch immer, dass die direkte Demokratie die eigentlich wahre sei. Die Errungenschaften der repräsentativen Demokratie werden bis heute klein- und schlechtgeredet.
Heinrich August Winkler: Ernst Fraenkel hat gesagt: Ein Volk, das seinem Parlament nicht die Fähigkeit zur politischen Repräsentation zutraut, leidet an einem demokratischen Minderwertigkeitskomplex. Er hat das in Bezug auf die Weimarer Republik gesagt. Aber er hat bis heute Recht. Wir erleben eine Verklärung der direkten Demokratie, die hinter alle Erfahrungen der klassischen Demokratien zurückfällt. Ich selbst gehöre seit einem halben Jahrhundert der SPD an. Aber wenn ich lese, dass der SPD-Vorstand Plebiszite auf Bundesebene fordert, bei der ein Fünftel der Wahlberechtigten ausreichen soll, um einen Volksentscheid stattfinden zu lassen, dann muss ich sagen: Das ist kein Beitrag zu mehr Demokratie, sondern ebnet der Vorherrschaft besonders aktiver, gut vernetzter Minderheiten den Weg.

Literarische Welt: Wenn ich mir in Ihrem Buch die Gefahren anschaue, die den Westen bedrohten, sind das über die Jahrhunderte hinweg immer dieselben: das Streben nach Hegemonie, religiöse und revolutionäre Intoleranz, Rassismus. Sind das auch die Gefahren, die der Westen künftig fürchten muss?
Heinrich August Winkler: In Europa droht die Gefahr einer nostalgischen Verklärung jener Ära, in der die souveränen Nationalstaaten über ihre eigenen Währungen verfügten. Jeder Versuch, diesen Zustand wieder herzustellen, würde uns in eine wirtschaftliche und politische Katastrophe führen. Es kommt nun darauf an, dass die europäischen Regierungen mit der Vorwärtsverteidigung des europäischen Projekts beginnen. Wir brauchen mehr Europa und nicht weniger. Wir brauchen einen Integrationsschub, der demokratisch legitimiert sein muss. Der Staatenverbund Europäische Union ist ein Übergangszustand. Die verdrängte Frage nach der Finalität des Einigungsprozesses muss wieder auf die Tagesordnung. Sicher werden nicht alle Mitgliedstaaten diesen Weg mitgehen, dann muss eine Gruppe von Staaten, die mehr Zusammenarbeit wollen, vorangehen. Jedenfalls wäre jeder Rückfall in die nationalstaatliche Vergangenheit fatal.

Literarische Welt: Gibt es "den" Westen noch?
Heinrich August Winkler: Der Westen wird vor allem von denen als Einheit gesehen, die ihn ablehnen. Die Terroranschläge von 11. September waren ein Angriff auf den Westen schlechthin. So wurden sie damals auch verstanden. Die Gemeinsamkeiten des Westens sind uns so selbstverständlich geworden, dass wir sie oft aus den Augen verlieren. Es sind nach wie vor die Errungenschaften der politischen Aufklärung, es sind die unveräußerlichen Menschen- und Bürgerrechte, die Prinzipien der Herrschaft des Rechts und der Gewaltenteilung, der repräsentativen Demokratie. Wer, wenn nicht die Länder des Westens, soll dieses Projekt hochhalten? Wir würden in eine Identitätskrise geraten, wenn wir dieses Fundament aus dem Blick verlören.

Literarische Welt: Zurück in die Vergangenheit: Der Begriff des Westens taucht ja erst Ende des 19. Jahrhunderts auf - als Gegensatz zum Osten. Ist es vor dem Hintergrund dieser Tatsache nicht methodisch problematisch, wenn Ihr erster Band mit der Entstehung des Monotheismus beginnt?
Heinrich August Winkler: Nein. Wenn wir fragen: Was ist für den Westen grundlegend, dann wird man so weit zurückgehen müssen. Ohne den Glauben, dass vor dem einen Gott alle Menschen gleich sind, hätte sich schwerlich der Gedanken durchsetzen können, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Mit dem Christentum kommt ein weiterer Gedanke hinzu, der in dem Wort Jesu zusammengefasst ist: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist. In diesem Prinzip liegt bereits die Wurzel für die Säkularisierung der Welt und die Emanzipation des Menschen. Auch im Mittelalter gibt es Entwicklungen, die im Zusammenhang mit der Entstehung des Westens berücksichtigt werden müssen, etwa den Investiturstreit als ein Element der vormodernen Gewaltenteilung oder auch die Magna Charta von 1215. All das sind Vorprägungen, die bedacht werden müssen, um das normative Projekt des Westens zu verstehen.

Literarische Welt: Sie sagen, der Westen sei ein normatives Projekt, also eine Idee. Wenn Sie das konsequent verfolgen, dann hätten Sie Russland nur kurz erwähnen müssen.
Heinrich August Winkler: Wie hätte ich die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts erzählen sollen, ohne auf den ernormen Einfluss des Zarenreiches oder der Sowjetunion einzugehen? Die Wechselwirkungen zwischen dem Westen und seinem ehemaligen Kontrahenten sind so stark, dass man sie nicht ignorieren kann.

Literarische Welt: Lassen Sie uns zum Ende noch auf die Zukunft kommen. Sie stehen vor dem Abschlussband, der die Zeit von 1945 bis in die Gegenwart behandelt. Wenn Sie sich die Geschichte des Westens anschauen, was lässt sich aus der Geschichte lernen?
Heinrich August Winkler: Man kann daraus lernen, dass es überaus kostspielig ist, sich über die eigenen Werte hinwegzusetzen. Der Glaube an die unveräußerlichen Rechte des Menschen, die Volkssouveränität, die repräsentative Demokratie - das sind Ideen, von denen die traditionellen deutschen Eliten zu lange gemeint haben, das seien nur ideologische Überhöhungen egoistischer Interessen. Deutschland hat seine Auflehnung gegen die Ideen der amerikanischen und der französischen Revolution mit einer für die ganze Menschheit schrecklichen Katastrophe bezahlt. Möglicherweise bedurfte es dieser Erfahrung, um nach 1945 das zu ermöglichen, was Jürgen Habermas 1986 auf dem Höhepunkt des Historikerstreits in dem Wort zusammengefasst hat, die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens sei die größte intellektuelle Leistung der Nachkriegszeit. Der Westen kann sein normatives Projekt nur glaubhaft vertreten, wenn er es mit radikaler Selbstkritik verbindet. Der allgemeine Geltungsanspruch der Menschenrechte ist unabdingbar. Solange diese Rechte nicht weltweit gelten, so lange ist dieses Projekt ein unvollendetes. Wenn der Westen überzeugend für dieses Projekt werben will, muss er sich selbst daran halten, was er häufig nicht getan hat. Ich erinnere an den Sklavenhandel und die eklatanten Verletzungen der Menschenrechte durch die Vereinigten Staaten während des Irak-Krieges nach 2003.

Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Die Zeit der Weltkriege 1914 -1945. C.H. Beck, München. 1350 S., 39,95 Euro. Mit Heinrich August Winkler sprach Jacques Schuster.
 

 

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