ZWISCHEN ENDE UND NEUANFANG - Der Dialog von Christen und Juden

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Artikel veröffentlicht: Thursday, 15. March 2012, 11:05 Uhr

Wir veröffentlichen in geringfügig überarbeiteter Form die Einführung von Pfarrer Markus Heitkämper, die er anlässlich der Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit am 12. März 2012 im Haus jüdischer Kultur - ALTE SYNAGOGE in Essen gehalten hat.

Der Abend stand unter dem Titel: 

 

"Zwischen Ende und Neuanfang - Der Dialog von Christen und Juden".

Pfr. Markus Heitkämper, Essen

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Paß,
sehr geehrte Herren Novoselsky und Budnitzki, lieber Hans Byron,
sehr geehrte Vertreter der Kirchen, insbesondere Herr Stadtdechant Dr. Cleve und Herr Superintendent Mundt,
sehr geehrte Damen und Herren!

Ich darf Sie im Namen der Essener Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit herzlich zu der lokalen Auftaktveranstaltung der Woche der Brüderlichkeit begrüßen!
Unser besonderer Dank gilt dem Leiter der ALTEN SYNAGOGE – Haus jüdischer Kultur, Dr. Kaufmann, dafür, dass wir auch in diesem Jahr wieder in diesem Hause zu Gast sein dürfen – einem Bauwerk, welches in ganz eindrücklicher Weise versinnbildlicht, was „Kompositum der Zeiten“ genannt werden kann. Der Bau- und Nutzungsgeschichte dieses Gebäudes eingedenk, tritt uns nämlich in sonst nur noch selten erfahrbarer Prägnanz die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ entgegen.

Ebenfalls „zu Gast“ in diesem Hause waren vor bald 100 Jahren –im September 1913- zahlreiche Vertreter des öffentlichen und kirchlichen Lebens. Sie folgten, aus Anlass der festlichen Einweihung der damals neuen Synagoge, der Einladung der Essener Jüdischen Gemeinde unter Leitung von Rabbiner Dr. Salomon Samuel.
Wie bis auf den heutigen Tag, so empfing schon 1913 die auf das Bauwerk zugehenden Gäste an der Stirnwand ein Wort aus den Propheten und der Tora - ursprünglich waren die Lettern vergoldet und daher besonders gut lesbar:
„Wahrlich: Mein Haus soll ein Bethaus genannt werden für alle Völker“ (Jes 56).
„Und du sollst lieben deinen Nächsten wie dich selbst, Ich der HERR.“ (3 Mose 19)

Diese Worte aus Jesaja und dem 3. Mosebuch sind von Rabbiner Samuel ausgewählt und mit großer Absicht an der Außenseite der Synagoge angebracht worden. Sie waren nämlich vornehmlich für die christliche Mehrheitsgesellschaft bestimmt. Sie stellten einen eindringlichen jüdischen Apell zum gemeinsamen, achtsamen Leben im Dialog dar, zur Koexistenz in gegenseitiger Verantwortung voreinander und füreinander.
Denn auch damals noch –über 100 Jahre nach dem Emanzipationsedikt vom März 1812, der bürgerlichen Gleichstellung der Juden im preußischen Staat, war der gesellschaftliche mainstream dem Judentum gegenüber von Diffamierungen unterschiedlicher Art gekennzeichnet. Und die maßgeblichen Stimmen in Theologie und Kirchen machten hier keinerlei Ausnahme. So meinte man etwa, die angebliche Partikularität des Judentums als etwas sowohl ethisch als auch geistig Niedrigstehendes theologisch disqualifizieren zu dürfen, von der sich die eigene, angeblich moralisch-geistig höherstehende, universale christliche Religion um so strahlender abheben konnte.
Wie sich die Zeiten doch zuweilen ähneln, könnte man sagen: Auch heute noch und wieder erheben Theologen unterschiedlichster Couleur diesen Vorwurf, bis zu jüngsten Beiträgen im traditionsreichen evangelischen Deutschen Pfarrerblatt. Der spannungsvolle innerbiblische Zusammenhang von Partikularität und Universalität wird nicht durchgehalten, sondern immer wieder wird die Partikularität unter Diffamierung in die Universalität aufgelöst. Als ob Gott auch als Gott aller Weltvölker auch nach dem neutestamentlichen Zeugnis nicht in besonderer Weise der Gott Israels bliebe.

In seiner Festpredigt, 1913, wird Rabbiner Samuel nicht müde, für ein wirkliches Miteinander, für ein Leben in Verantwortung für den Anderen, zu werben, und verkürzenden und verzerrenden Sichtweisen von dem, was angeblich typisch jüdisch sei, etwas entgegenzusetzen. Ich kann seine Worte an dieser Stelle nur kurz einspielen: Als Samuel auf die Synagoge als bet t’fila, „Haus des Gebets“, zu sprechen kommt, stellt er den Psalter in den Mittelpunkt seiner Betrachtung und sagt:
„Ja, diese Klänge, die Davidpsalmen vor allem, auf die wir stolz sind, haben für uns noch eine andere Bedeutung. Sie stellen die seelische Gemeinschaft dar zwischen uns und unsern andersgläubigen Mitbürgern. Im Hinblick auf jene können wir sagen: mögen die Wege verschieden sein, auf denen unsere Gebete zum Himmel steigen, -die betenden Herzen werden von den gleichen Gefühlen erschüttert und den gleichen Worten erleichtert, und Ein Gott im Himmel hört uns alle. Die Psalmen haben die Menschen beten gelehrt, und sie sind unser gemeinsamer Besitz. Die schönste Weihe, die dies Haus empfangen kann, verleiht ihm die freudige Anteilnahme soviel edler, hochgestellter Ehrengäste aller Bekenntnisse; und der schönste Ausblick, den die betende Gemeinde in die Zukunft der Menschheit tun kann, kündet an der Stirnwand das Wort des Jesaja: Ki beti bet t’fila jikra lechol haamim „denn mein Haus soll und darf ein Bethaus genannt werden für alle Völker!“

Eine der Vergangenheit angehörende, warmherzige und wunderschöne Einladung zum Leben im Dialog, die doch ohne nachhaltige Wirkung in der christlichen Mehrheitsgesellschaft blieb - im Gegenteil: zunächst in den Wind geschlagen, dann, nur wenige Zeit später, mit den Füßen getreten und buchstäblich in Brand gesetzt.

Wir, die wir uns heute –welch ein Kontrast!- in der seit den 1980er Jahren nun so genannten „Alten Synagoge“ versammelt haben, tun dies aus Anlass der sich in diesem Jahr zum 60. Mal jährenden „Woche der Brüderlichkeit“. Diese einzigartige Veranstaltungsreihe stand und steht christlicherseits für die Bereitschaft, sich angesichts der geschehenen Schoa bis in den Kern christlicher Identität hinein befragen, ja: erschüttern zu lassen. Das –trotz „Nostra Aetate“ und Rheinischem Synodalbeschluss- stets nur von zahlenmäßig wenigen Christinnen und Christen getragene Gespräch mit dem Judentum stand und steht für eine leidenschaftliche Suchbewegung: Ist die Schuld, die Abermillionen von getauften Christen gegenüber den jüdischen Geschwistern auf sich geladen hatten, lediglich ein Mißbrauch, eine Perversion christlichen Glaubens, die den Kern jedoch unberührt lässt? Oder, welch erschreckender Gedanke, ist das Christentum etwa essentiell judenfeindlich, gehört der theologische Antijudaismus (als Nährboden eines späteren rassistischen Antisemitismus) gar als ein Geburtsfehler zum Christentum? Und wäre also letztlich nicht wirklich therapierbar? – Die Woche der Brüderlichkeit signalisiert christlicherseits die feste Entschlossenheit, es nie wieder zuzulassen, dass jüdische Existenz in den Schmutz gezogen wird, weder durch Worte noch durch Taten.
Auch in der Alten Synagoge Essen fand solch fundamentales Nachdenken schon früh seinen Ort. Ich denke etwa an die Vorlesungsreihe „Christliche Identität im Angesicht Israels“ vom Frühjahr 1991, veranstaltet von der Alten Synagoge Essen in Verbindung mit den beiden theologischen Fakultäten der Ruhr-Universität Bochum.

Das Jahresthema der diesjährigen Woche der Brüderlichkeit, 2012, lautet nun: „In Verantwortung für den Anderen“. – Ich frage: Hören Christinnen und Christen den an sie ergehenden Ruf Gottes, des Ewigen, denn wenigstens heute? Weichen sie denn jedenfalls jetzt nicht mehr der Frage Gottes, des Ewigen, aus? „Wo ist dein Bruder? Wo deine Schwester? Kümmert es dich, fühlst du dich verantwortlich dafür, wie es ihnen, wie es meinem Volk, ergeht? Welche Hoffnungen und welche Existenzängste dieses mein Volk heute umtreiben?“

Ich mache immer häufiger eine merkwürdige, geradezu unheimliche Beobachtung, und scheue mich nicht, sie scharf auszudrücken: Im Blick auf die toten Juden, als Opfer, hat man sich gesellschaftlich arrangiert und binnenchristlich sogar zu Schuldbekenntnissen durchgerungen. Immer mehr Gedenken in Deutschland, Stolpersteine, Mahnmale, Gedenktage – man könnte meinen, die Deutschen hätten spät, aber immerhin ihre Lektion aus der Schoa gelernt. Der Ermordeten wird deutschlandweit mit großem Engagement gedacht; sie sind nicht vergessen.
Werden jüdische Gräber geschändet, lassen die entsprechenden Mahnwachen nicht lange auf sich warten.
Zugleich häufen sich jedoch Nachrichten, dass der antisemitische Bodensatz in Gesellschaft, Kirche und Theologie wächst. Besonders Israel als jüdischen Staat trifft diese antijüdische Stimmung. Ihm wird zunehmend die Legitimation entzogen. Boykottaufrufe werden laut, auch von kirchlich prominenter Seite. Wie glaubwürdig ist die Parteinahme für das –unbestreitbare!- Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung, wenn diese allzu oft mit einer nur mühsam kaschierten Feindseligkeit, ja: mit einem Hass dem jüdischen Staat gegenüber einhergeht?! Wie es lebenden Juden ergeht, ist offensichtlich weniger gefragt. Viele hegen und pflegen ihr Feindbild Israel und verkennen -aus welchen Gründen auch immer!- die existentielle, aus purem, eliminatorischem Judenhass erwachsene Bedrohung, der dieser Staat auch und besonders in unseren Tagen ausgesetzt ist.
Gesellschaft und Kirchen drohen angesichts der Israelfrage –es ist nicht nur für mich die „Judenfrage“ unserer Tage- erneut zu versagen.

„Der Ermordeten gedenken, die Lebenden ausgrenzen? Gedenkkultur in Deutschland“ – so der provokative Titel eines unlängst gehaltenen Vortrags von Dr. Edna Brocke.
Was bedeutet das Jahresthema „In Verantwortung für den Anderen“ angesichts dieses Befundes? Wie nachhaltig ist unsere Gedenkkultur und welchen Bedürfnissen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft dient sie eigentlich?

Damit sind wir, wie ich meine, bei einigen der Fragen, die politisch wie kirchlich-theologisch von höchster Brisanz und Aktualität sind. (...)
 

 

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