In den letzten Tagen des Jahres 2010 erschien die zweite Ausgabe der halbjährlich erscheinenden Zeitschrift KIRCHE und ISRAEL (Heft 2/10 – 25. Jahrgang). Das Heft ist eine thematisch breit angelegte Ausgabe in der es dem Kreis der Herausgeber und der Redaktion erneut gelingt, aktuelle Themen und Entwicklungen jenseits aktualistischer Berichterstattung in analytischer Schärfe als interessante Beiträge, die über den Tag hinaus Gewicht behalten, zu dokumentieren.
So lässt sich in einer Übersetzung von Edna Brocke ein Vortrag des französischen Philosophen Alain Finkielkraut nachlesen, den er im Juni 2010 in Yad Vashem gehalten hat. Sein deutscher Titel ist "Gedenken und Empfindsamkeit". Finkielkraut geht davon aus, dass Europa nach 1945 alles daran setzt, sich vor sich selbst zu schützen. Europa will - so Finkielkraut - "die Flammen des Antisemitismus mit dem Wasser des Erinnerns löschen." Je mehr jedoch die dazu gehörige Aufarbeitung der Vergangenheit der Schrecken Europas zum europäischen Selbstverständnis gehören, so mehr wehren sich "Länder, Kontinente, Gemeinschaften und Minderheiten" dagegen, nicht gleichermaßen als zu verantwortende Opfer Europas anerkannt zu werden. So gerät also mittels Erinnerung "Öl ins Feuer" – kurz geschlossen: Es geschieht das Gegenteil dessen, was die Erinnerungskultur intendiert. Die Ausführungen Finkielkrauts können so zum Gegenstand möglicher Selbstkritik über "Erinnerung" werden.
Ein äußerst lesenwerter, instruktiver Beitrag ist der über den "jüdischen Barthianer" Michael Wyschogrod. Sein Autor, Meir Y. Soloveichik, ist Rabbiner in New York. Die Kennzeichnung als "jüdischer Barthianer" kommt von Wyschogrod selbst und diese Selbstcharakterisierung gehört zum hier publizierten Aufsatz, der im November 2009 erstmals in den USA veröffentlicht wurde. Wyschogrod ist als orthodoxer Jude der Beziehung von Judentum und Christentum intensiv nachgegangen. In dem hier veröffentlichten Aufsatz "Gottes erste Liebe: Die Theologie von Michael Wyschogrod" wird er als "kompromissloser Verteidiger der Partikularität Israels" vorgestellt. Einer Partikularität, die das Universale nicht nur kennt, sondern dessen Universalität in und mittels dieser Partikularität zum Tragen kommt: Gottes "rettende und erlösende Sorge um das Wohlergehen der ganzen Menschheit (ist) an seine Liebe für das Volk Israel gebunden".
Wyschogrod war im christlich-jüdischen Gespräch in Deutschland vor einigen Jahren schon intensiver im Gespräch. Womöglich lässt der in hier veröffentlichte Beitrag diesen jüdischen Theologen erneut in den Blick auch interessierter christlicher Theologen kommen.
Aus dem hier angezeigten Heft seien noch zwei Beiträge erwähnt, die stärkere Beachtung finden sollten: Rolf Schieders Artikel "EKD regt Diskussion über Wirtschaftsboykott Israels an" kann auch ´Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit´ dazu anregen, sich kritisch mit diversen Trends in den Kirchen und ihrem jüngsten Verhältnis zu Israel zu konfrontieren . Nachdem palästinensische Christen zu einem Wirtschaftsboykott aufgerufen haben, in dem die "Besetzung Palästinas" als "Sünde gegen Gott und die Menschen" gekennzeichnet wurde, wird sich auch die EKD mit den hierzu gehörenden Fragen beschäftigen. Eine christlich-christliche Kontroverse ist womöglich vorgezeichnet, die das christlich-jüdische Verhältnis nicht unberührt lassen wird.
Nahe dem Letztgenannten ist auch der Beitrag von Malcolm F. Lowe über "Das palästinensische ´Kairos´-Dokument: eine Hintergrundanalyse". Charakterisiert als "Aufschrei" hat das sog. Kairos-Dokument, v.a. in Kreisen evangelischer Christen, schnell weite Verbreitung erfahren. Der Beitrag Lowes ermöglicht Einblick in die Entstehung und Zielrichtung des Dokuments. Ein Lese-Muss für im christlich-jüdischen Gespräch engagierte Christen, Theologen, politisch Interessierte.
Karl H. Klein-Rusteberg