Artikel veröffentlicht: Sunday, 21. August 2011, 22:02 Uhr
Wir danken Ulrich Sahm, dem Autor des folgenden Beitrags und mehrfach Gast der GCJZ-Essen zu Vorträgen und Diskussionen, für die Möglichkeit der Übernahme aus dem Blog Achse des Guten. www.achgut.com
„Haben Sie vielleicht einen Vorschlag, wie der Nahostkonflikt gelöst werden könnte?“
Ulrich Sahm
Vor allem Deutsche scheint die Unordnung im Nahen Osten gehörig zu stören. Es passt einfach nicht zum deutschen Sinn für Ordnung, dass es da einen ungelösten Konflikt gibt, zumal es sonst in der ganzen Welt ja kaum Konflikte oder ungelöste Fragen gibt.
Man muss sich nur in Deutschland umschauen. Da sind die Hecken sauber getrimmt. Jede Straße an einen Bürgersteig und die Bürger wissen genau, welcher Abfall in die grüne, blaue, gelbe oder graue Mülltonne gehört. Niemand käme auf die Idee, sein Auto am Sonntag zu waschen. Bei einem öffentlichen Rasen reicht schon ein Schild allein mit der Aufschrift „Verboten“, damit jeder weiß, dass da nichts erlaubt ist: betreten, Hunde ausführen, grillen oder Vögel füttern.
Doch die Irritation, dass allein im Nahen Osten immer noch kein Friede herrscht, verfolgt die guten Deutschen überall hin. Denn außer in Nahost herrscht doch eigentlich überall in der Welt „Frieden“.
Der Sudan ist jenseits des deutschen Horizonts und Afrika ansonsten so schwarz, dass man es nicht sieht. Afghanistan wird ausgeblendet. Der Krieg im Irak ist schon vergessen, und wen interessiert es, wenn dort am Wochenende ein paar Dutzend Menschen durch Selbstmordattentäter gesprengt werden. Pakistan und Jemen sind weiße Flecken auf den Landkarten deutschen Bewusstseins. In Tunesien ist alles wieder ruhig und Ägypten befindet sich auf dem besten Weg zu „Demokratie und Freiheit“. Die Vorgänge in Syrien sind ein innerer Zwist, der die Deutschen nicht weiter tangiert. Und dann war doch noch was in Libyen. Ach ja, da hat die Nato mal wieder ein paar Rebellen bombardiert und „überwiegend Frauen und Kinder“ getötet. Die Welt wäre also in Ordnung, wenn es nicht diesen unerquicklichen Nahostkonflikt gäbe.
Sowie der gelöst wäre, würde „Friede auf Erden“ ausbrechen. Je nach Weltanschauung weiß natürlich jeder deutsche Wohnzimmerstratege im Sessel vor dem Fernseher, wer Schuld an dem Konflikt ist. Und falls er es nicht weiß, wird es ihm umgehend erklärt.
Aber irgend etwas stimmt hier nicht! Wir haben zwar den Euro und offene Grenzen (außer nach Dänemark), aber haben wir wirklich Frieden? Immerhin endete im Oktober 2010 der Erste Weltkrieg mit der letzten Ratenzahlung Deutschlands an England aufgrund der Versailler Verträge. Doch wo ist ein Friedensvertrag nach dem Zweiten Weltkrieg unterzeichnet worden, zwischen Deutschland und Holland und Polen und Luxemburg und Russland und Dänemark und Norwegen usw. Das sei überflüssig… denn wir leben doch alle in Frieden…
Frieden ist, wenn nicht geschossen wird, heißt es dann. Doch selbst wenn in Nahost mal nicht geschossen wird, etwa seit 1973 zwischen Israel und Syrien, wird weiterhin nach einem dringend notwendigen „Frieden“ gerufen.
Vielleicht sollten sich die ordentlichen Deutschen ein neues Wort ausdenken und weder von „Frieden“ noch von „Lösung“ in Nahost reden, solange selbst das ach so friedliche Europa sich mit Zäunen und Mauern gegen illegale Einwanderer und Arbeitssuchende abschottet, mit brennenden Banlieues in Paris und Vandalismus in London nicht zurecht kommt und auf Flugplätzen Fläschchen mit Wasser entsorgt und solche mit Parfum oder Nagellack in durchsichtige Tüten packen lässt, aus Angst vor Terroristen.
Das Thema hier lautet „Frieden durch Sicherheit, Sicherheit durch Frieden“. Es geht um Israel und um die alte Diskussion, was Israel alles tun sollte, um Frieden zu erlangen und um dann in Sicherheit leben zu können.
Für jeden Vorschlag zur „Lösung“ des Nahostkonflikts gibt es leider Dutzende Gegenargumente. Vor dreißig Jahren hat Israel seinen ersten Friedensvertrag mit einem arabischen „Feind“ unterzeichnet. Ägypten anerkannte Israel. Beide Länder nahmen diplomatische Beziehungen auf. Israel räumte die ganze Sinaihalbinsel mitsamt den Siedlungen in Jamit und Scharm A Scheich. Ägypten stimmte einer Entmilitärisierung der Halbinsel zu und verzichtete auf die volle Souveränität. Klar, Anwar el Sadat bezahlte dafür mit seinem Leben, aber sein Nachfolger Hosni Mubarak hielt sich strikt an alle Paragrafen.
Und dennoch war das kein „echter“ Frieden, auch wenn nicht geschossen wurde. Die Handelsbilanzen zwischen beiden Ländern zeigen, dass da keine „normale“ Beziehungen zustande gekommen sind. Ägyptische Kopten erhalten keine Genehmigung ihrer Behörden, nach Jerusalem zu pilgern während israelische Touristen Gefahr laufen, als „zionistische Spione“ verhaftet zu werden. Die ägyptischen Medien hetzen weiter gegen Israel in der besten Tradition des „Stürmers“, während ägyptische Berufsverbände jene Mitglieder verstoßen, die es wagen, Israel zu besuchen. Und jetzt ist Mubarak gestürzt.
Auf einer Bahre liegend, mit angeschlossener Infusion, wird dem Garanten eines Friedens mit Israel in den vergangenen dreißig Jahren in einem Eisenkäfig der Prozess gemacht. Zum Glück (für Israel) hat sich in Ägypten fast nichts geändert. „Außer Spesen nichts gewesen“ besagt der deutsche Spruch. Das Wort Spesen könnte man mit fast tausend Toten austauschen, denn die gleichen Militärs (wie der von Mubarak ernannte Feldmarschal Tantawi oder der jetzt über Mubarak zu Gericht sitzende Oberrichter) sind weiterhin an der Macht, wie zuvor unter Mubarak, Sadat und Nasser. Diese Militärs dürften aus Eigeninteresse am Frieden mit Israel festhalten. Doch niemand weiß, wer künftig in Ägypten die Fäden ziehen wird.
Ohne das Gespenst halbwissender „Experten“ an die Wand zu malen, wonach übermorgen Islamisten oder Moslembrüder in Kairo das Sagen haben könnten, hier nur ein kleiner Gedankenanstoß: Die Moslembrüder sind Ideologen mit böswilligen Ansichten über Israel-Zionisten-Juden. Bekanntlich sind Ideologien fähig, Berge zu versetzen, auf Kosten pragmatischer Interessen des eigenen Landes oder der eigenen Bevölkerung. Man muss da nicht nur an den Dschihad (Heiliger Krieg) denken. Die horrendesten Beispiele dafür findet man in der europäischen Geschichte.
Dass Friede nicht unbedingt Sicherheit bringt, haben die PLO und Arafat bewiesen. Alle Welt war 1993 euphorisch nach der Unterzeichnung des „Friedensabkommens“ zwischen Israel und der PLO. Doch die Osloer Verträge und die nachfolgenden Abkommen waren kaum das Papier wert, auf dem sie unterschrieben worden sind. Zwar erhielten die Palästinenser eine (vorläufige) Selbstverwaltung und keinen vollgültigen Staat, aber für die Israelis bedeutete dieser „Frieden“ fast augenblicklich einen Krieg im eigenen Land mit Anschlägen gegen die Zivilbevölkerung, wie Israel es seit 1948 nicht mehr erlebt hatte.
Da es hier nicht um Schuldzuweisungen geht, sei als Tatsache angemerkt, dass erst seit etwa drei Jahren eine echte Kooperation zwischen Israel und der Autonomiebehörde zustande gekommen ist. Deshalb herrscht relativer „Friede“. Zum einen ist es den Israelis gelungen, durch den Bau von Zaun und Mauer, Geheimdienst, Verhaftungen und Aussperren palästinensischer Gastarbeiter dem Terror weitgehend ein Ende zu setzen. Genauso entscheidend war aber auch der Beschluss von Ministerpräsident Salam Fayad, auf Gewalt gegen Israel zu verzichten und endlich die zivilen Institutionen zwecks Gründung eines palästinensischen Staates aufzubauen. Ob in diesem Fall „Sicherheit“ die Palästinenser überzeugt hat, den Weg des „Friedens“ zu gehen, oder umgekehrt, ob allein der von Fayad beabsichtigte „Frieden“ den Israelis „Sicherheit“ beschert hat, während Mauerbau und Kampf gegen Terror keinerlei Bedeutung hat, wird natürlich von beiden Seiten unterschiedlich gesehen.
Zwischen Israel und der Hisbollah-Miliz im Libanon oder der Hamas im Gazastreifen herrscht natürlich kein „Frieden“, aber es herrscht eine relative Ruhe. Gemäß dem europäischen Prinzip, wonach Frieden ist, wenn nicht geschossen wird, hat das Prinzip „Sicherheit“ den derzeitigen trügerischen „Frieden“ geschaffen. Zwar wurden in der Welt und teilweise auch in Israel sowohl der Libanonkrieg 2006 wie auch die „Operation Gegossenes Blei“ im Gazastreifen zwei Jahre danach als israelisches Debakel und Niederlage beschrieben. Tatsache aber ist, dass Hisbollahchef Hassan Nasrallah die „Provokation“, die am 12. Juli 2006 zum Krieg führte, „bitter bereut“ hat. Tatsache ist, dass die Hisbollah es seitdem nicht wagt, auch nur eine einzige Rakete auf den Norden Israels abzuschießen. Noch nie haben die Menschen in Galiläa eine so lange Periode völligen „Friedens“ genossen.
Die Hamas im Gazastreifen hat ebenso ihre Lehren aus dem Militärschlag vom Winter 2008/2009 gezogen. Der massive tägliche Raketenbeschuss wurde nach dem informellen Waffenstilland nicht wieder aufgenommen, obgleich es bis heute gelegentlich einige Raketen „tröpfelt“.
„Frieden durch Sicherheit, Sicherheit durch Frieden“ ist also eine nette Formel, ein Slogan, aber nicht so einfach, wie es klingt.
Ohne „Sicherheit“, also Abschreckung, Militärmacht und im schlimmsten Fall sogar Krieg, gibt es offenbar keinen „Frieden“. Und „Frieden“ gibt es nur, wenn dazu auch ein Wille besteht und die Lust vergangen ist, den Krieg fortzuführen. Neben diesen beiden Begriffen müssen auch noch Dinge wie Interessen, Politik, Ideologie oder unvorhersehbare Entwicklungen (Putsch, Aufstand, „arabischer Frühling´“, Pannen und politische Irrtümer) sowie vieles mehr einbezogen werden.
Ähnlich vereinfachend ist auch die strapazierte Formel „Land für Frieden“. Ohne den Sinai aufzugeben, hätte Israel keinen Frieden mit Ägypten erhalten (obgleich Ägypten keine volle Souveränität über die Halbinsel zurückerlangt hat). Seit 1973 herrscht zwischen Israel und Syrien „Frieden“, obgleich oder eher weil Israel die Golanhöhen nicht aufgegeben hat. Der Rückzug Israels aus Südlibanon brachte Krieg und war der ursächliche Auslöser der zweiten Intifada. Nach den Osloer Verträgen zogen bewaffnete Kämpfer Arafats ins Land und brachten keine Sicherheit sondern Terror. Der totale Rückzug aus Gaza im August 2005 führte zum Putsch der Hamas, zum Beschuss durch 10.000 Raketen und zum Krieg 2008/2009.
Zur Formel „Land für Frieden“ sollte man abschließend auch wieder mal einen Blick auf Europa werfen. Nach der Niederlage des Zweiten Weltkriegs verzichtete Deutschland auf Land (Königsberg, Danzig, Schlesien usw) und erntete dafür den heutigen „Frieden“.
Kein arabisches Land und kein Araber denkt auch nur im Traume daran, dieses Prinzip für das sehnsüchtige Ziel eines Friedens mit Israel selber anzuwenden. Denn „Land“ steht in Wirklichkeit für Besatzung, und die ist natürlich die allerschlimmste Plage der Menschheit, während „Frieden“ diffus und undefiniert bleibt.
Wenn doch tatsächlich „Frieden“ in Europa herrscht, wieso redet dann niemand darüber, dass Deutschland bis 1990 besetztes Land war und erst mit dem „vier plus zwei“ Vertrag von den vier Besatzern in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Und zynisch kann man noch hinzufügen, dass Tibet von China „befreit“ wurde und der Osten Polens von den Russen. Die spanischen Enklaven in Marokko sind natürlich auch keine „Besatzung“ und Gibraltar genießt die britische Herrschaft. Diese Liste ließe sich noch fortsetzen.
Wer eine „Lösung“ des Nahostkonfliktes fordert, sollte vielleicht erst einmal vor der eigenen Haustüre kehren, und den Menschen vor Ort vertrauen, sich zu arrangieren – so wie die es für richtig halten.