Wir verweisen auf eine Besprechung des soeben erschienenen zweiten Bandes von Joseph Ratzinger - Papst Benedict XVI. "Jesus von Nazareth" aus der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG vom 12. März 2011. Insbesondere die Passagen der hierin formulierten Ablehnung der "Kollektivschuldthese gegenüber dem jüdischen Volk" (eine bedenkenswert-bedenkliche Umschreibung der NZZ) im Hinblick auf den Tod Jesu gilt die Aufmerksamkeit der medialen Öffentlichkeit. Angesichts des Faktums, dass wir eine rasante Wiederbelebung alter, christlicher Motive der Judenfeindschaft weltweit in mehr und minder säkularen Gestalten erleben, sollte dieses Wort - hier und heute - nicht gering geachtet werden.
Als Hinweis, dank kritisch-historischer Analyse, gilt dieses Wort als alles andere als originell. Und es lässt sich an diesem Beispiel erneut illustrieren, wie so manch empfundene christliche Neu-Erkenntnis gegenüber dem Judentum, diesem als eine (manche sagen: zu spät) nachgeholte Selbstverständlichkeit gilt. Das gilt bis in die von kirchlicher Seite aus formulierten Dokumente des Vaticanums II. Den Christen revolutionär, gilt vielen Juden: Was denn sonst? Aber nochmals: Als Wort in dieser unserer Gegenwart sind die hier angedeuteten Passagen des Werkes von Joseph Ratzinger in ihrer positiven Bedeutung nicht hoch genug zu bewerten!
Ein möglicher, nächster Schritt wäre jetzt die - was denn sonst? - Erkenntnis, dass Juden ein Recht auf ihren Staat haben, wie alle anderen Völker auch. Welch ein Signal wäre es, wenn der aus Deutschland kommende Papst dies der Stadt und dem Weltenkreis als Selbstverständlichkeit verkündigen würde??!!
-kr-
Der vollständige Text aus der NZZ hier: http://www.nzz.ch/magazin/buchrezensionen/leben_und_sterben_fuer_gott_und_die_menschen_1.9859971.html
12. März 2011, Neue Zürcher Zeitung
Leben und Sterben für Gott und die Menschen
Der zweite Band des Jesus-Buches von Papst Benedikt XVI.
Jan-Heiner Tück
(...) Hatte der erste Teil die Stationen von der Taufe bis zur Verklärung abgeschritten, so zeichnet der zweite den Weg Jesu vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung nach. Dabei greift Joseph Ratzinger auf Einsichten der historischen Kritik zurück, will aber seine Auslegung auf eine Hermeneutik des Glaubens hin öffnen, die auch die Stimmen der Kirchenväter einbezieht. Zu fragen wäre, ob das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Evangelien mitunter nicht zu gross ist. Nicht jedes Wort ist authentisch, nicht jede Spannung zwischen den Evangelien harmonisierbar. Das weiss Benedikt natürlich auch, aber an manchen Stellen geht er darüber hinweg, als wolle er sagen: Mögen die Historisch-Kritischen ihre Hypothesen diskutieren, ich halte es lieber mit den kanonischen Evangelien und dem lebendigen Gedächtnis der Kirche, das diese hervorgebracht hat. – Hier wird die Kritik der Exegeten ansetzen.
Nach dem bejubelten Einzug Jesu in Jerusalem erregt bereits die Tempelreinigung Anstoss. Jesus missbilligt die Verquickung von Kult und Kapital, wenn er die Händler und Geldwechsler mit dem Argument vertreibt, der Tempel solle ein Haus des Gebets sein. Gleichzeitig kündigt er an, er werde diesen Tempel abreissen und in drei Tagen wieder aufbauen. Diese Provokation führt bei der Tempelaristokratie zum Beschluss, Jesus umzubringen. Dennoch wäre es nach Ratzinger falsch, diese Szene als Auftakt zu einer politischen Revolution zu deuten. Ausdrücklich habe sich Jesus von den Zeloten abgesetzt, die einen gewaltsamen Sturz der römischen Besatzung herbeiführen wollten.
Wahrer Eifer (griechisch: zelos ) für Gott zeige sich nicht in Gotteskriegerei, sondern in der Absage an Gewalt: «Das Töten anderer im Namen Gottes war nicht seine Art.» Man wird hier einen versteckten Hinweis auf die derzeitige Religionsdebatte sehen dürfen, in der die Differenz zwischen christlichen Märtyrern und militanten Gotteseiferern mitunter fahrlässig verwischt wird. Auf der Linie der Propheten habe Jesus den Eifer, der Gott durch Gewalt dienen wollte, umgewandelt in den Eifer des Kreuzes und dadurch den Massstab für den wahren Eifer aufgerichtet – die Liebe, die sich verschenkt.
Die Fusswaschung ist ein Symbol dieser sich verschenkenden Liebe. Im Abendmahl verdichtet sie sich testamentarisch zu einem Freundschaftszeichen. Über Brot und Wein werden Worte gesprochen, welche die Gesten in Akte der Selbstverschenkung verwandeln. Benedikt geht mit Sorgfalt den unterschiedlichen Zeugnissen der Abendmahlsüberlieferung nach und beleuchtet die dort anklingenden alttestamentlichen Motive des Bundes und der Sühne. Seine These lautet, dass in der eucharistischen Selbstgabe die Summe der Sendung Jesu aufscheint, die er auf den Begriff der «Proexistenz» bringt. Wie Jesus für Gott und die Menschen gelebt habe, so sei er auch in den Tod gegangen. Er verwandle die brutale Gewalt von innen her in einen Akt der Hingabe. Gewaltverzicht und Feindesliebe, Spitzenaussagen der Bergpredigt, werden in der Passion beglaubigt, wenn der Gekreuzigte für seine Peiniger betet. Benedikt nimmt sogar an, Jesus habe seinen Tod im Sinne des leidenden Gottesknechts verstanden, der die Schuld des Volkes hinwegträgt.
Geläufig ist der Einspruch, dass eine sühnetheologische Deutung des Kreuzestodes nicht auf Jesus selbst zurückgehen könne. Dieser habe die bedingungslose Vergebungsbereitschaft Gottes ins Zentrum seiner Botschaft gerückt; es sei daher unmöglich, dass er das Heil am Ende doch an die Bedingung eines Sühnetodes geknüpft habe. Benedikt löst diesen Widerspruch, indem er eine innere Entwicklung im Denken Jesu ansetzt. Die Verkündigung vom Anbruch des Reiches Gottes sei vom damaligen Israel mehrheitlich abgelehnt worden. Um angesichts seines bevorstehenden Todes dennoch die Botschaft vom nahenden Heil aufrechterhalten zu können, habe Jesus das Lied vom leidenden Gottesknecht (Jesaja 53) zur Deutung des eigenen Geschicks herangezogen. Das Kreuz müsse daher als die «Radikalisierung der bedingungslosen Liebe Gottes» gedeutet werden, «in der Jesus das Nein der Menschen auf sich nimmt und so in sein Ja hineinzieht».
Das Motiv der Stellvertretung stösst allerdings auf Verstehensprobleme. Nicht nur der an Kant geschulte Zeitgenosse wird sich fragen, wie die sittliche Unvertretbarkeit des Subjekts mit dem Motiv des stellvertretenden Sterbens zusammengehen kann, ohne eine wirklich befriedigende Auskunft zu finden. Auch kursiert der Verdacht, Gott sei ein «Kannibale im Himmel», wenn er das blutige Opfer des Sohnes fordere, um seinen Zorn über die Sünde der Menschen zu besänftigen. Dieser Karikatur des christlichen Erlösungsglaubens hält Joseph Ratzinger entgegen, dass mit dem Kreuz das Ende des Opferkultes gekommen sei. Nicht Gott verlange Vorleistungen vom Sünder, sondern umgekehrt biete er die Gabe der Versöhnung im Gekreuzigten an. Liebe, nicht Vergeltungsdrang stehe im Hintergrund der Sendung Jesu. Am Kreuz trete Gott in seinem Sohn an die Seite der Geschlagenen, den Henkern aber werde ein Spiegel ihres Unrechts vorgehalten. – Offen bleibt, wie diese Einsichten auf eine Theologie zu beziehen wären, die sich nach der Shoah an der abgründigen Leidens- und Schuldgeschichte abarbeitet.
Dafür betont Benedikt durchgängig die jüdische Herkunft Jesu und zeichnet ein differenziertes Bild des Prozesses. Seiner Ansicht nach sind es die Vertreter der Tempelaristokratie gewesen, die aus religiösen und politischen Motiven die Verurteilung Jesu betrieben haben. Die These von einer Kollektivschuld Israels lehnt er strikt ab und stellt heraus, dass die Kapitalgerichtsbarkeit bei den Römern lag. Der brisanten Stelle, in der Matthäus das «ganze Volk» rufen lässt: «Sein Blut komme über uns und unsere Kinder» (Mt 27, 25), gibt er eine Deutung, die der fatalen Wirkungsgeschichte dieses locus classicus des Antijudaismus den Riegel schiebt. Jesu Blut spreche eine andere Sprache als das Blut Abels. Es rufe nicht nach Rache. Es sei das «Blut der Versöhnung, das nicht gegen jemanden, sondern für viele, ja für alle vergossen» werde. Diese Absage an jede Form von Antijudaismus ist von rabbinischer Seite bereits gewürdigt worden.
(...) Auch für Unmusikalische Im gegenwärtigen Religionsdiskurs dominiert der Blick auf die geschichtlich-institutionelle Aussenseite des Christentums. Nur selten werden die Inhalte des Glaubens extra muros ecclesiae überzeugend eingebracht. Das Jesus-Buch des Papstes will hier einen Kontrapunkt setzen, indem es sich auf die Mitte des Christentums zurückbesinnt. Von diesem Anstoss können nicht nur gläubige, sondern auch halb- und nichtgläubige Zeitgenossen profitieren. Wie der Glaube durch kritische Rückfragen an Vertiefung gewinnt, so können umgekehrt auch säkulare Zeitgenossen «in religiösen Äusserungen semantische Gehalte, vielleicht sogar verschwiegene eigene Intuitionen entdecken, die sich übersetzen und in eine öffentliche Argumentation einbringen lassen» (Jürgen Habermas). Nicht ausgeschlossen, dass die Begegnung mit der Botschaft Jesu, in die das Buch des Theologen Joseph Ratzinger hineinführen will, auch dem religiös unmusikalischen Zeitgenossen zu denken gibt.
Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung. Herder, Freiburg i. Br. 2011. 366 S.