„Kritik der theologischen Phrasen und Halbheiten“
Friedrich Wilhelm Graf bespricht Franz Overbeck Werke und Nachlass - Band 3 als Literatur des großen theologischen Außenseiters des späten 19.Jahrhunderts in der Neue Zürcher Zeitung
Wer im christlich-jüdischen Kontext auf die (wenigen) Schriften Jacob Taubes gestoßen ist oder wer gegenläufig die Schriften des Carl Schmitt nicht schuldbeladen ignoriert, dem ist der Theologe Franz Overbeck bekannt. Theologiegeschichte ist heute nicht die gefragteste der theologischen Disziplinen, um so spannender, was Graf hier präsentiert. Nun ist der Band 3, die „Schriften bis 1898 und Rezensionen“, der Werke Franz Overbecks als letzter der insgesamt elf Bände umfassenden Werk- und Nachlassausgabe im Verlag J.B. Metzler erschienen. Diesen Band bespricht der in München lehrende evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf in der Neuen Zürcher Zeitung vom 5. März 2011 (Nr.54).
Die Besprechung Grafs ist sehr instruktiv, der Rezensent referiert in pointierter Kürze, Grundelemente des Overbeckschen Werks sympathisierend und auch für Nicht-Theologen gut nachvollziehbar. Und liest man zudem von der Begeisterung Overbecks gegenüber dem zeitgenössischen Kirchenhistoriker Ferdinand Christian Baur und wie Overbeck seinerseits die Baursche Fähigkeit preist, „die Gegensätze in ihrer Spitze aufzufassen“, sich für die Kunst begeistert, die „Phrasen, Halbheiten und Sophismen“ im Dískurs der Theologen zu bekämpfen, dann kommt der Leser der Rezension nicht umhin, an die jüngsten Einlassungen des Rezensenten Friedrich Wilhelm Graf selbst zu denken, der, kirchensoziologisch wohlinformiert, in seiner „Kirchendämmerung – Wie die Kirche unser Vertrauen verspielt“ (Verlag Beck, München2011) den Kirchen die Dimension der Eigenverantwortung angesichts ihres Realzustandes spiegelt. Doch keineswegs geht es dem Rezensenten in der Neuen Zürcher Zeitung darum, die Veröffentlichung des Overbeck-Bandes als Mittel zum eigenen Zweck zu missbrauchen.
Graf charakterisiert Overbeck als „radikalen“ Historisierer und den Herausgebern des Bandes gelänge es, „jene Ideenkämpfe gut sichtbar“ zu machen, „die die protestantische Universitätstheologie und andere historisch-hermeneutische ´Culturwissenschaften´ angesichts der fortschreitenden Historisierung aller überlieferten kulturellen Bestände" bestimmten. Die Deutung theologischer Texte mit jenen philologischen Mitteln, nicht anders als für alle anderen Texte der Vergangenheit – hier lag die methodische Spitze der theologischen Kontroverse und Provokation jener Zeit. In unserer Zeit, in der der Relativismus der Postmoderne längst - mindestens - die „working theologies“ des Alltags der Kirchen durchsetzt hat, ist nun auch ein solcher Ansatz, wie – folgt man Graf - Overbeck ihn repräsentiert, geschichtlich und aus seiner Zeit verstehbar. Er kann aber auch und nicht zuletzt für das christlich-jüdische Gespräch (wieder?) entdeckt werden. „Durch ´Vergleichung der Formen´ will er (Overbeck) den primären historischen Ort eines Textes bezeichnen, dessen Adressaten benennen und so die ursprüngliche Kommunikationssituation rekonstruieren.“ - eine Art „streng formale Analyse literarischer Strukturen“, so nennt es Graf vergegenwärtigend. Zur radikalen Historisierung Overbecks gehört nicht zuletzt auch die Kennzeichnung des Quellenbestandes des Neuen Testaments als „christliche Urlitteratur“. Diese Literatur sei insofern als „esoterisch“ zu bezeichnen, als dass sie nicht für die Ewigkeit, sondern als durch die Abkehr von der Welt der starken Naherwartung der Wiederkehr Christi und des bald kommenden Weltendes geschrieben gewesen sei - als Selbstverständigung in die frühe Gemeinde hinein, keineswegs für alle Zeiten. „Erst deutlich später begännen gebildete christliche Denker eine apologetische Literatur zu begründen.“ Und Overbeck sähe zwischen dieser – hellenistisch geprägten - Literatur und jener „Urlitteratur“ formal wie inhaltlich keine Kontinuität. Die Provokation die hierin lag ist womöglich aus heutiger Sicht kaum noch nachvollziehbar. Spätestens an dieser Stelle läßt sich aber auch erahnen, wie sich das christlich-jüdische Theologiegespräch auf Overbeck beziehen kann (oder sollte), wenn wir die christlichen Vor-Auschwitz-Theologien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf ihre Bezüge zum Judentum befragen. Die Rezension Grafs jedenfalls kann als Einladung und Anregung zur „radikalen Historisierung“ des christlich-jüdischen Theologieverhältnisses gelesen werden. Und auf Overbeck kann dann dank der nun vollendeten Werkausgabe zurückgegriffen werden.
Karl H. Klein-Rusteberg