Artikel veröffentlicht: Monday, 28. April 2014, 17:18 Uhr
Facetten totaler Herrschaft
Karl H. Klein-Rusteberg
Die Versuche, die Beispiellosigkeit der Shoah zu verstehen, werden mehr und mehr zum "Spezialgebiet" meist jüdischer Historiker. Die Mehrheitsgesellschaften des Westens finden immer weniger Interesse an den Fragen nach dem "Wie ist es geschehen?" und "Warum ist es geschehen?". Entweder ist die daraus abgeleitete Moral erschöpft oder man nimmt sie - grenzenlos und universalisiert - als Steinbruch für die Empörung bei nahezu jedem der (durchaus zahlreichen) verwerflichen Anlässe des Weltgeschehens.
Obwohl dieser Trend seit Jahren zu beobachten ist, reagieren hingegen empörte Öffentlichkeiten paradoxerweise nach wie vor, nicht zuletzt in Deutschland, "allergisch" auf Versuche des Vergleichs der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Weniger die Beispiellosigkeit als die ´Singularität´ der Shoah muss dafür herhalten, dass die historischen Kommunismen zwar nicht ignoriert, aber in ihren enthumanisierenden Dimensionen zumindest als Anlass und Objekt der Erkenntnis deutlich geringer beachtet werden. Die Zurückhaltungen im Vergleich werden nicht selten für die Relativierung kommunistischer Verbrechenssysteme ausgenutzt - von unbelehrbaren Parteigängern scheinbar vergangener Zeiten an der vielzitierten Basis ebenso, wie von machtgestützten Strategen der Gegenwart. Anti-Faschismus, der schon seit den dreissiger Jahren des Spanischen Bürgerkriegs seinen Namen kaum verdient, wird für diverseste Legitimationen instrumentalisiert. Auf dieser Klaviatur spielen Waldimir Putin und seine ideologische und kriegerische Gefolgschaft - wobei seine einflussreichen Berater und Zuarbeiter nicht nur gleichzeitig die Kooperation mit westeuropäischen Rechtsradikalen forcieren, sondern auch in den mehr als trüben Gewässern rechtsextremer Ideologien der Zwischenkriegszeit tauchen, um diese in russifizierter Gestalt zur jüngsten und heilsbringenden politischen Theorie (nicht allein für die russische Gegenwart) zu verklären.
Die ohne Zweifel existierenden aktiven rechtsextremen Kräfte in der Ukraine und auch der Majdan-Bewegung müssen für besagten Interventions- und Besatzungs-Anti-Faschismus auf eine Weise herhalten, wie sie aus den Zeiten der ideologischen Schlachten des Kalten Krieges der 50er und 60er Jahre (kaum noch) in Erinnerung sind. Der Putinsche Krimkrieg als präventiver Akt anti-faschistischer Befreiung? Welch ein Hohn. Die Verunsicherung im Westen, mit der Majdan-Bewegung womöglich "Faschisten" zu unterstützen, ist nicht gering. Und da historische Fehler vermieden werden sollen (gemäß der absurden historischen Lehre des "Nie wieder falsch handeln"), entsteht eine Kultur der Zurückhaltung, der Teilnahmslosigkeit und des Mangels an Urteilsfähigkeit, die einem Opportunismus gegenüber solchen Systemen wie dem Putinschen - "gelenkte Demokratie" - erschreckend ähnlich sieht.
Zahlreich sind mittlerweile die Beiträge in westlichen Medien anderer Länder, die kritisch danach fragen, was denn nun die wirklichen deutschen Lehren aus der Geschichte jenseits der ritualisierten, mantra-ähnlichen Bekundungen bei historisch vorgegebenen Erinnerungsanlässen sind, die die Mehrheit der Deutschen - angesichts der Herausforderungen der Gegenwart - gezogen haben.
Dies ist der Hintergund für eine immer intensiver werdende Geschichtsschreibung und Literatur östlich-europäischer Autorinnen und Autoren, die sich auf die Spuren des Totalitarismus begeben und die kommunistische Geschichte in Osteuropa erkenntnisfördernd öffentlich macht. Das von Marko Martin in der JÜDISCHEN ALLGEMEINEN besprochene Buch der amerikanischen Historikerin Marci Shore ist ein solches, gutes Beispiel.
Traten in den letzten Jahren Schriftstellerinnen und Historikerinnen, wie u.a. Katja Petrowskaja (Vielleicht Esther) oder Svetalana Alexijewitsch, als Trägerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels (Secondhand Zeit) , mit ihren Büchern in die deutsche Öffentlichkeit, kann das Buch von Marci Shore als ein überaus gelungenes Exemplar für die Befragung der mittel-osteuropäischen Vergangenheiten gelten. Die amerikanische Historikerin hat sich durch keinerlei Korrektheitsansprüche ihre Neugier und ihr - hier passt der Begriff - Erkenntnisinteresse verderben lassen. Insofern auch eine nachdrückliche Leseempfehlung unsererseits.
JÜDISCHE ALLGEMEINE
http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/18932
BUCH
Was von Stalin übrig blieb
Marci Shore reist auf den Spuren jüdischer Kommunisten und Dissidenten durch Osteuropa
25. April 2014
Von Marko Martin
Was für ein außergewöhnliches, lehrreiches und dazu noch flüssig geschriebenes Buch. Und wie seltsam, dass die deutsche Medienrezeption von Marci Shores Der Geschmack von Asche. Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa bislang eher verhalten ist. Hatten die einen der in Yale lehrenden Historikerin (ihr Ehemann ist Timothy Snyder, der preisgekrönte Verfasser von Bloodlands) den impressionistisch-reportagehaften Stil vorgeworfen, monierten die anderen die Dominanz einer bestimmten Thematik, mit der sie als Rezensenten offensichtlich nichts anzufangen wussten.
Bei allen Recherchen im Prag, Bukarest oder Bratislava der Post-89er-Jahre liegt Shores Fokus nämlich auf jenen Jahrhundertbiografien polnischer Juden, die sich entweder dem Zionismus oder dem Kommunismus verschrieben hatten – Letztere auf verhängnisvoll tragische Weise, die im besten Fall später ein beeindruckendes Dissidenten-Engagement provozierte.
Polemisch gesagt: So genau hatten es deutsche Literaturkritiker dann doch nicht wissen wollen, denn was die amerikanisch-jüdische Autorin in Polen auffindet an komplexen Täter-Opfer-Biografien, sprengt den Rahmen jeglicher politischen Korrektheit.
KREMLGLÄUBIG Durch die Begegnungen mit antikommunistischen polnischen Dissidenten jüdischer Herkunft stößt Marci Shore bald in tiefere Schichten vor, die ihr als 1972 im Westen Geborener bislang unbekannt waren.
Man kann nur bewundern, mit welch unprätentiöser intellektueller Neugier und atmosphärischer Darstellungsgenauigkeit die Autorin die Leser mitnimmt auf diese Entdeckungstour – ob in New Yorker Wohnküchen steinalter linker Bundisten, die noch immer mit den »rechten« Zionisten ihrer Jugend einen Strauß ausfechten, zu Überlebenden des Warschauer Ghetto-Aufstandes oder zu improvisierten Schabbatabenden, an denen einst katholisch Getaufte oder geborene Atheisten ihr frisch erlerntes Jiddisch radebrechen oder von der Alija nach Israel träumen. Sie sind die Kinder, häufig bereits schon die Enkel polnischer Stalinisten, die einst im Kreml die einzige Alternative zu Hitler gesehen hatten.
Aber wie konnten Juden, die 1939 nach der Aufteilung Polens zwischen Nazi-Deutschland und der UdSSR zu Tausenden in Stalins kasachische und sibirische Arbeitslager gekommen waren, nach ihrer Rückkehr dem neuen Gewaltregime dienen? Es sind die Nachgeborenen, die nun reden und Marci Shore aufs Band sprechen. »Für die Generation meiner Eltern war die Entscheidung klar. Sie hieß: der Gulag oder die Gaskammern. Und aus dem Gulag kamen die Leute zurück – zumindest jene, die Glück hatten. Wenn die Juden die Kommunisten akzeptierten, dann nur, weil die Kommunisten die Einzigen waren, die uns akzeptierten – für einige Zeit.«
SÄUBERUNGEN Dennoch waren dann viele der in den stalinistischen Schauprozessen der 50er-Jahre Angeklagten jüdischer Herkunft, die nun selbst ihr früherer totaler Bruch mit der Religion nicht mehr rettete. Allerdings waren auch viele Verantwortliche der damaligen Zeit Juden. Es spricht für die skrupulöse Präzision der Historikerin, dass sie sich um diese Tatsache nicht mit dem beliebten Argument herummogelt, diese Funktionäre seien doch wohl weniger jüdisch als radikal stalinistisch gewesen.
»Staszek etwa, dessen Vater und Großvater Stalinisten waren, glaubte irgendwann eine Verwandtschaft zwischen Judentum und Marxismus zu erkennen: die Rolle der Zaddik, die Tradition des Textkommentars, die messianistische Hoffnung. Für ihn als Sohn und Enkel bestand die Tragödie nicht darin, dass die Juden Stalin vor Hitler den Vorzug gaben, sondern dass viele von ihnen Stalin mit dem Messias verwechselten. Erst 1968 war ihnen klar geworden, dass lediglich Kommunismus und Faschismus einander glichen.«
In jenem Jahr, in welchem in Prag die Sowjetpanzer rollten, hatte die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei die in Warschau protestierenden Studenten der »zionistischen Konspiration« geziehen und die gegen die Zensur gerichteten Demonstrationen als Vorwand genutzt, eine antisemitische Kampagne loszutreten. Die regierenden Kommunisten verbreiteten die hanebüchene Unterstellung, »nazistische Zionisten« hätten sich gegen Polen verschworen. 13.000 Juden – darunter viele Schoa-Überlebende und bislang überzeugte Kommunisten – mussten ihre polnischen Ausweise gegen Ausreisevisa eintauschen.
EMIGRATION Manche hatten jedoch Polen schon früher in Richtung Israel verlassen, wie Adolf Berman, der als bekennender Zionist im Ghettoaufstand gekämpft hatte und seine Rettung Wladyslaw Bartoszewski verdankte, dem katholischen Auschwitz-Überlebenden, späteren Solidarnosc-Aktivisten und polnischen Außenminister in den 90-Jahren. Nach Kriegsende war Bartoszewski verhaftet worden – vom stalinistischen Sicherheitsdienst, dessen Politbüro-Chef kein anderer war als der stalingläubige Jakub Berman, der Bruder des Linkszionisten Adolf Berman.
Man liest all diese Lebensgeschichten mit atemloser Aufmerksamkeit und versteht irgendwann, weshalb der 1968 als junger Mann nach Paris emigrierte Politikwissenschaftler Aleksander Smolar bei Marci Shores Nachfragen zu diesem Resümee kommt: »Dennoch – alles Gute an mir habe ich von meinen Eltern. Wenn ich mich mehr als zehn Jahre darum bemüht habe, das System niederzureißen, dass sie mit errichtet haben, dann nur wegen der Werte, die sie mir vermittelt haben.«
WIDERSTAND Das ist in der Tat eine schöne Pointe: Aus dem kommunistisch missbrauchten Wort der Solidarität war Anfang der 80er-Jahre die polnische »Solidarnosc« geworden, und was damals an der Danziger Lenin-Werft begann, fand sein glückliches Ende beim Berliner Mauerfall. Nicht zuletzt jüngere polnisch-jüdische Dissidenten wie Adam Michnik und Aleksander Smolar waren in diesem Kampf engagiert, und Ältere wie Marek Edelman, einst der letzte Kommandant des Warschauer Ghetto-Aufstandes, waren an ihrer Seite.
Und heute? Im Warschau der Gegenwart trifft Marci Shore nicht nur dumpfe rechtsnationale Antisemiten, sondern auch erfreuliche junge Leute, die weiterhin davon überzeugt sind, dass sich Engagement lohnt – trotz alledem und alledem. »Diese junge Generation hatte gelernt, sich vor dem kollektivistischen Geist und dem Wunsch nach der großen Erzählung zu fürchten. Sie stand vor der Aufgabe, solche Welterklärungsmodelle zu verabschieden, ohne dabei ethische Werte aufzugeben, sich von der Ideologie zu befreien, ohne dabei in Nihilismus zu verfallen.«
Wie gesagt: ein tiefe Erkenntnis förderndes, ein außergewöhnliches Buch.
Marci Shore: »Der Geschmack von Asche. Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa«. Übersetzt von Andrea Stumpf. C.H. Beck, München 2014, 376 S., 26, 95 €