PROPALÄSTINISMUS, ISLAMISTISCHE INDOKTRINIERUNG UND JUDEOPHOBIE IN FRANKREICH

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Artikel veröffentlicht: 02.03.2013, 23:05 Uhr

Wir danken der Redaktion haGalil und dem Autor, Pierre-André Taguieff, für die Zustimmung zur Übernahme des folgenden Artikels. Der Autor ist weit über Frankreich hinaus bekannt für seine Arbeiten zum modernen Antisemitismus. Karl H. Klein-Rusteberg

haGalil.com - http://www.hagalil.com/archiv/2013/02/26/taguieff/

Propalästinismus, islamistische Indoktrinierung und Judeophobie in Frankreich

 

Pierre-André Taguieff - 26. Februar 2013 

Erschienen in drei Teilen in Le Huffington Post,12.01.2013, 14.01.2013, 15.01.2013 - Übersetzung: Eva zum Winkel

1.
Von seltenen Ausnahmen abgesehen sind Juden im heutigen Frankreich hinsichtlich Arbeit, Wohnen und Bildung nicht mehr Opfer von Diskriminierung. Sie haben freien Zugang zu den Medien- und Kulturberufen, zu Beschäftigungen in der Verwaltung und sind nicht mehr benachteiligt beim Zugang zu politischen Verantwortungen. Aber sie sind Opfer von Stigmatisierungen, von Drohungen und körperlicher Gewalt, die aus neuen sozialen, kulturellen und politischen Milieus stammen, die mit den alten Milieus der anti-jüdischen extremen Rechten nichts mehr gemeinsam haben…
Gleichzeitig sind sie auch Opfer einer permanenten globalen Diffamierung durch einen Teil der Medienlandschaft, der „antizionistischen“ Ansichten verbunden und Sprachrohr der negativen Gerüchte über sie ist. Das setzt sie einer permanenten Verdächtigung aus, die sich auf ihre als kriminelle Komplizenschaft wahrgenommene Solidarität mit Israel bezieht. Zur antijüdischen Gewalt „von unten“, die im wesentlichen den in Frankreich geborenen Islamisten zuzuordnen ist, gesellt sich die kulturelle Judeophobie „von oben“, produziert und reproduziert durch die Repräsentanten eines „linksradikalen“, politisch-intellektuellen und medialen Milieus, die mechanisch der palästinensischen Sache verbunden sind und mit Hilfe ihrer einflußreichen Positionen zu einer judeophoben Massenindoktrinierung beitragen. Dieser kulturelle Linksradikalismus besetzt einen viel breiteren Raum, als der politische Linksradikalismus einnimmt. Er übertritt die Grenzen zwischen Linken und extremen Linken und prägt in einigen Bereichen (Anti-Israelismus, Anti-Amerikanismus) die „politisch korrekte“ öffentliche Meinung.
Der Hass, der auf die Juden zielt, ist zwar ideologisiert, jedoch nicht explizit. Denn im öffentlichen Raum taucht er praktisch nur in der Form von wütenden Erklärungen gegen Israel und „den Zionismus“ auf – wobei es sich um polemisch genutzte Kategorien mit endlos dehnbaren Grenzen handelt. Seit Ende der 60er Jahre wird in der Tat der Judenhass von dem getragen, was man gemeinhin Antizionismus nennt, einer Mischung aus einer systematischen Feindseligkeit gegenüber Israel, wer auch immer seine Regierung stellt, und eines ausschließlichen Mitgefühls für die Palästinenser, was auch immer sie tun. Der bedingungslose Propalästinismus ist nunmehr weltweit der Hauptvektor des Judenhasses. Er liefert die Hauptmotive, um gegen den Staat Israel, der auf eine kriminelle „Entität“ reduziert wird, und „gegen den Zionismus“ zu agieren, der eines der großen negativen Mythen unserer Zeit darstellt. Die wachsende Islamisierung der „palästinensischen Sache“, ein dank des Schnittpunkts verschiedener Propagandalinien universalisiertes Opfer-Anliegen, hat ihr darüberhinaus den symbolischen Status einer privilegierten Front des weltweiten Djihadismus verliehen. Die letzte große Welle der Judeophobie kennzeichnet daher eine starke Mobilisierung der islamischen Welt gegen Israel und den „weltweiten Zionismus“, die bei den islamistischen Predigern mit einer apokalyptischen Vision des Endkampfes gegen die Juden einhergeht. So fasst der Artikel 28 der Charta der Hamas (August 1988) in einem Satz die antijüdische Ideologie der islamistischen Bewegung zusammen: „ Israel fordert, weil es jüdisch ist und eine jüdische Bevölkerung hat, den Islam und die Muslime heraus“.
Das „antizionistische“ Programm hat, betrachtet man seine radikalen Formulierungen, die explizite Zielsetzung, Palästina von der „zionistischen“ oder „jüdischen Präsenz“ zu „reinigen“ oder „säubern“, weil sie als „Einwanderung“ betrachtet wird, die einen palästinensischen oder arabischen Boden (aus der Sicht der Nationalisten) oder einen islamischen Boden (aus der Sicht der Islamisten) besudelt. Das bezeugt die Rede, welche Khaled Mechaal, Chef des Politbüros der Hamas, am 8. Dezember 2012 anläßlich des zwanzigjährigen Bestehens der Hamas in Gaza hielt. Der Aufruf zur Vernichtung Israels wird als Aufruf zur „Befreiung von ganz Palästina“ formuliert. „Palästina, GANZ Palästina zu befreien ist eine Pflicht, ein Privileg, eine Absicht und ein Ziel. Es liegt in der Verantwortung des palästinensischen Volkes und der islamischen Nation, Palästina zu befreien (…) Der Djihad und der bewaffnete Widerstand sind die wirklichen und genauen Mittel dieser Befreiung und der Wiederherstellung unserer Rechte (…) Ein wahrer Mann ist Produkt des Gewehrs und der Rakete (…) Palästina – vom Jordan bis zum Mittelmeer, vom Norden bis zum Süden (das heisst ganz Israel) – das ist unser Land, unser Recht, unsere Heimat. Nichts wird aufgegeben werden, nicht einmal das kleinste Stück von dieser Erde. Palästina war und ist seit jeher arabisch und islamisch. Seit immer gehört Palästina uns, es ist das Land der Araber und des Islams (…) Es gibt keine Alternative zu einem freien palästinensischen Staat mit wirklicher Souveränität über das gesamte Gebiet Palästinas“[02].
Eine solche manichäische Betrachtung der Welt schließt jede Dialog- und Kompromißbereitschaft aus. Die Verwurzelung und Verbreitung eines großen negativen Mythos über Israel und „den Zionismus“ im kollektiven Imaginären der muslimischen Welt ist eines der Haupthindernisse zur Einführung eines tasächlichen und dauerhaften Friedens im Nahen Osten. Nun sind die jüngsten Erschütterungen, die in einigen Ländern des Maghreb stattgefunden haben, in einen Machtzuwachs islamistischer Bewegungen gemündet, ob es sich um die Moslem-Brüder oder um salafistische Strömungen handelt. Demzufolge hat sich der Aufruf zum Djihad gegen die Juden banalisiert, er hat die relative Marginalität verlassen, zu der ihn seine Aneignung durch Al Qaida in den 1990er und 2000er Jahren verurteilt hatte. In Ägypten hat Mohammed Mursi, Moslembruder und seit 30. Juni 2012 Staatschef, in einer vom Al Quds Fernsehen am 23. September 2010 übertragenen Rede ungeschminkt seine Sicht des israelisch-palästinensischen Konflikt geäußert:
„Entweder akzeptiert Ihr die Zionisten und all das, was sie wollen, oder es gibt Krieg. Das ist es, was diese Besetzer Palästinas kennen – diese Blutsauger, die die Palästinenser angreifen, diese Unruhestifter, diese Nachkommen von Schweinen und Affen (…) Gegen sie müssen wir alle Formen des Widerstandes üben (…) Sie dürfen ihren Fuß auf keinen einzigen arabischen oder islamischen Boden setzen. Sie müssen aus unseren Ländern verjagt werden“. Diese Sicht des Kampfes gegen die „Zionisten“ wird vom Höchsten Führer der Moslembrüder, Mohammed Badie, geteilt, der am 11. Oktober 2012 zum Djihad für die Befreiung Jerusalems aufrief: „Der Djihad, um Al Quds zurückzuerobern, ist für jeden Moslem eine Pflicht (…) Die Zionisten verstehen nur Gewalt und werden auf ihre Übertretungen (…) allein dank dem heiligen Djihad verzichten“.

2.
Was die Judeophobie in der Geschichte charakterisiert, ist zunächst, dass sie „der älteste Hass“ ist, und zweitens, dass sie unaufhörlich neue Formen angenommen, sich dem Zeitgeist angepasst, neue Alibis gefunden und neue Rechtfertigungen erdacht hat.
Den Antijuden ist das Widersprüchliche der Anschuldigungen unerheblich: Juden werden gleichzeitig als zu „kommunautaristisch“ oder „identitär“ (religiös, „solidarisch“ untereinander, nationalistisch, zionistisch etc.) und dann wiederum als zu kosmopolitisch (Nomaden, Internationalisten, „Mondialisten“ etc.) bezeichnet. Léon Poliakov erinnerte daran, dass „die Juden zu allen Epochen die Phantasie der umgebenden Völker stimuliert, Mythen, meist übelmeinende, und eine Desinformation im weitesten Sinn des Begriffes hervorgerufen haben“. „Keine andere Menschengruppe (ist) während ihrer ganzen Geschichte mit einem ähnlichen Gewebe an Legenden und Aberglauben eingedeckt worden“.
Von denjenigen, die sie hassen, werden Juden sowohl als bedrohlich wie auch als verletzlich wahrgenommen. Diese ambivalente Wahrnehmung unterhält und verstärkt die antijüdische Gewalt. Daher kommt bei den heute zu beobachtenden Übergängen zur Tat jene Mischung von Feigheit (Passanten, Kinder oder schutzlose Schüler anzugreifen) und Ressentiment (das aus einem Gefühl von Ohnmacht gegenüber einer teuflischen, zwangsläufig okkulten jüdischen Übermacht entsteht) zustande. In allen Fällen bildet die Verteidigung der als Opfer des „Zionismus“ aufgebauten Palästinenser den ideologischen Kern der Legitimationsmodi zeitgenössischer antijüdischer Gewalt. Das Hauptthema dabei ist die „Rache für die von den Zionisten ermordeten palästinensischen Kinder“, ein Thema, das die alte Anschuldigung von „Ritualmord“ neu erweckt. Die Zusammenkünfte und Märsche zugunsten der „palästinensischen Sache“ stellen die Rituale dar, welche die „antizionistischen“ Leidenschaften unterhalten oder anfachen, deren Abgrenzungen von den antijüdischen Leidenschaften in der Mehrzahl der Situationen unkenntlich geworden sind.
Der Pro-Palästinismus ist in der Tat der Hauptvektor des neuen Judenhasses geworden, dem man oft den Namen „Antizionismus“ verpasst. In diesem Sinne kann man ihn als einen instrumentellen Pro-Palästinismus bezeichnen. Er ist jedoch mehr als ein Vektor. Er kennzeichnet den Einzug in ein neues Regime der Judeophobie, das auf den ausschließlich den Palästinensern zugewiesenen Zügen eines messianischen Volkes gründet. Der talentierteste bedingungslose Verteidiger der Palästinenser, Jean Genet, hat sozusagen das Geheimnis gelüftet, als er in Form einer rhetorischen Frage schrieb: „Hätte die palästinensische Revolution nicht das Volk, das mir am düstersten erschien, bekämpft, jenes Volk, dessen Ursprung sich als der Ursprung schlechthin wähnte, jenes Volk, das proklamierte, der Ursprung gewesen und geblieben zu sein, jenes Volk, das sich als die Nacht der Zeiten bezeichnete, hätte sie mich dann mit derartiger Kraft angezogen?“ Genet fügte hinzu, dass in seinen Augen „die palästinensische Revolution fortan nicht länger ein gewöhnlicher Kampf um einen geraubten Boden war, sie war ein metaphysischer Kampf“. Der Schriftsteller ahnte nicht, dass er spontan ein Motiv des Nazi-Antisemitismus wiederentdeckte, wie Alfred Rosenberg ihn im Nachwort seines Buchs über „Die Protokolle der Weisen von Zion und die jüdische Weltpolitik“ (1923) formulierte: „In unserer Geschichte stellt der Jude unseren metaphysischen Gegner dar. Leider sind wir dessen nie klar bewusst geworden (…) Heute scheint man endlich das ewig fremde und feindliche Prinzip, das eine so hohe Macht bekommen hat, wahrzunehmen und zu hassen.“
Das „Volk“, von dem der pro-palästinensische Schriftsteller spricht, ist das jüdische Volk, das zu einer Entität erhoben wird, welche „die Macht“, das heißt das Böse, in Genets Perspektive verkörpert. Die Israelis verschwinden aus dem Horizont, ähnlich die mystifizierten und diabolisierten „Zionisten“. Es bleiben die Juden. Allerdings die zu einer abstrakten und dämonisierten Entität verwandelten Juden. Der engagierte Schriftsteller erklärt deutlich, dass er die Palästinenser genau in dem Maß liebt, wie diese die Juden, das heißt das Böse, bekämpfen. So werden die Palästinenser zum Gegen-Volk erwählt, allerdings um selber das neue auserwählte Volk zu werden. Ein neuerlicher großer historischer Substitutionsvorgang, ein neuerlicher Akt der symbolischen Gewalt, dessen Opfer die Juden sind. Muss man darauf hinweisen, daß die Palästinenser seit Ende 2012 das von der UNO oder anders gesagt, von der klar dominierenden Weltmeinung, erkorene Volk sind? Die neue vox dei?
Der Pro-Palästinismus ist heute einer der möglichen Namen der neuen Judeophobie geworden. Vielleicht der Name, der am besten zu ihr passt. Heute kann man nicht mehr antijüdisch sein, ohne für die Palästinenser zu sein. Aber die Umkehrung dieses Satzes läßt erschauern: denn man muss erwägen, dass man nicht mehr pro-palästinensisch sein kann, ohne antijüdisch zu sein. Und diese These wendet sich auch auf jene Juden an –Israelis eingeschlossen -, welche die palästinensische Sache zu ihrer gemacht haben. Jenseits des alten Selbsthasses, anzutreffen bei konvertierten wie auch bei nicht konvertierten Juden, welche zu Kollaborateuren der antijüdischen Sache geworden sind – von Nicolas Donin im 13. Jahrhundert bis zu Jakob Brafman im 19. oder Arthur Trebitsch im 20. Jahrhundert –, stößt man auf die Kriegserklärung gegen sich selbst bei Anhängern der radikalen antizionistischen Sache, die vom Negationismus (Noam Chomsky) verführt oder vom palästinensischen Islamismus, jener Maschine zur Produktion von Fanatikern und „Märtyrern“, fasziniert sind. Weit davon entfernt, Ekel und Abscheu hervorzurufen, übt die Radikalität auf viele Köpfe eine Faszination aus. Für die bedingungslosen Pro-Palästinenser, gleich welcher Herkunft, ist „der Jude“ der Feind. Dank dem Pro-Palästinismus ist Judeophobie für jeden erreichbar, „ungeachtet der Herkunft, der Rasse oder der Religion“, wie Artikel 2 der Verfassung der V. Republik besagt. Das beginnende 21. Jahrhundert hat eine Judeophobie erfunden, an der man universell teilnehmen kann.

3.
Die untrennbar pro-palästinensischen und anti-israelischen Massenkundgebungen, die in den Jahren 2000 – 2012 in Frankreich und in zahlreichen europäischen Ländern (wie auch in den USA und Kanada) zu beobachten waren, lassen sich gewiss nicht auf politisierte Ausdrücke des Judenhasses reduzieren. Selbstredend können nicht alle pro-palästinensischen Demonstranten individuell genommen als überzeugte Judenhasser betrachtet werden, und ihre Proteste können durchaus von einem authentischen Mitgefühl für die palästinensischen Opfer des Konflikts geleitet sein. Das Problem rührt daher, dass diese aufrichtigen Demonstranten selber nur selektiv auf die Straße gehen: man sieht sie nie ein Mitgefühl für die israelischen Opfer bekunden. Ebensowenig sieht man sie gegen terroristische Überfälle protestieren, wenn diese jüdische Opfer, ob israelische oder nicht israelische, gefordert haben. Diese Demonstranten mobilisieren sich auch nicht für die Verteidigung der arabischen Opfer dieser oder jener arabischen Diktatur (beispielsweise des syrischen Regimes). Kurz: die pro-palästinensischen Empörungen und Mitleidsgefühle sind einseitig, haben ein ausschließliches Anliegen und sind nicht universalisierbar.
Schon der Umstand, dass man auf diesen Demonstrationen eine gewisse ideologische Heterogenität erkennen kann (Linksradikale verschiedener Richtungen, Islamisten jeglicher Couleur etc.) und dass regelmässig und gleichzeitig Parolen gerufen oder vorgetragen werden wie „Frieden in Palästina!“, „Stop dem Völkermord an den Palästinensern!“, „Stop dem jüdischen hitlerschen Terrorismus!“, „Zionisten = Mörder!“, „Nieder mit dem Zionismus + Rassismus + Faschismus + Terrorismus“, „Juden in den Ofen“, „Tod dem Juden!“, zeigt, dass sich der Ausdruck des anti-jüdischen Hasses banalisiert hat. Betrachtet man die Entwicklung des judeophoben Diskurses seit den 70er Jahren, stellt man fest, dass die große ideologische Erneuerung darin besteht, dass sich der Judenhass nunmehr in der Sprache des „Kampfes gegen den Rassismus“ oder der „Verteidigung der Menschenrechte“ artikuliert. Die Anschuldigung der Islamophobie bereichert neuerdings das Arsenal der gegen die Juden verwendeten symbolischen Waffen, wie die folgende, vielfach variierte Parole bezeugt: „Die Juden bringen die Moslems um“. Souad Merah, die ihren Bruder bewundernde Schwester des islamistischen Mörders Mohamed Merah und selbst Anhängerin der djihadistischen Weltanschauung, verkündete ihre eigene Fassung: „Die Juden, alle diejenigen, die dabei sind, die Moslems zu massakrieren, hasse ich.“
Der selektive Antirassismus hat eine neue Karriere in Form der Anti-Islamophobie angetreten. Ein zum Kern des Neo-Antifaschismus gewordener Pseudo-Antirassismus ist das privilegierte Vehikel der neuen Judeophobie, das heisst des radikalen oder absoluten Antizionismus geworden.
In Frankreich ist das besorgniserregende Phänomen also nicht in der Gesellschaft allgemein zu situieren: es liegt weder an der Permanenz der antijüdischen Leidenschaften (katholischer/reaktionärer Tradition oder antikapitalistischer/ revolutionärer Tradition) noch im Wiederaufkommen des alten politischen Antisemitismus nationalistischer Provenienz (wie man ihn regelmäßig in der Umgebung des Front National antrifft). Es ist auch nicht allein mit internationalen islamistischen Netzwerken verbunden, die auf dem französischen Territorium anti-jüdische Attentate organisieren. Das besorgniserregende Phänomen besteht in dem Einbrechen der Judeophobie durch die Hintertür, durch die Banlieues und die „schwierigen Stadtteile“, getragen von einem aus der Immigration entstandenen neuen Lumpenproletariat, das von islamistischen Predigern zum Judenhass und zum Hass auf Frankreich (und allgemeiner auf den Westen) indoktriniert wird und zu seinen gewalttätigen Aktionen von Agitatoren des neuen „antikapitalistischen“ und islamophilen Linksradikalismus ermutigt wird.
Um mit Marx zu sprechen, ist dieses neue islamisierte oder islamisierbare Lumpenproletariat der objektive Bündnispartner aller Feinde des liberalen/ demokratischen Westens, der Juden und des französischen Volkes, Feinde, die man in allen sozialen Klassen und allen politischen Strömungen antrifft, wenn sie auch in der „revolutionären“ Linken und der demagogischen Linken überrepräsentiert sind. Um das Neue dieses Phänomens zu begreifen, muss man im Feld der ideologisierten Meinungen und Überzeugungen das Vorhandensein einer starken Korrelation zwischen dem Hass auf den Westen (Hesperophobie), dem Hass auf Frankreich (Frankophobie) und dem Hass auf die Juden (Judeophobie) mutmaßen.
Ironischerweise stellt sich im Zusammenhang mit der „altermondialistischen“ Bewegung ernstlich die Frage: ist eine andere Welt ohne Antisemitismus möglich? Und korrelativ: ist eine „altermondialistische“ Bewegung ohne Judenhass möglich? Allgemeiner: ist ein anderes, weniger israelkritisches Europa denkbar? Eine bescheidenere Frage stellt sich, die uns direkt betrifft: ist ein anderes Frankreich ohne wachsende judeophobe Islamisierung möglich? Auf diese Fragen gibt es keine optimistische, nur eine voluntaristische Antwort. Anstelle der Träume von einem Morgen, an dem die Liebe zu Israel und der Weltfrieden mit sanften Tönen besungen werden, begleitet von einem gemischten israelisch-palästinensischen Orchester mit Stéphane Hessel als Dirigent, braucht es Hellsichtigkeit, Entschlossenheit und Mut.
Die Juden haben noch nie so viele Gründe gehabt, ihren Feinden das entgegenzuwerfen, was Golda Meir zu ihrer Zeit den palästinensischen Führern, die von einem „Israelozid“ träumten, entgegenwarf:
„Ich verstehe sehr wohl, daß Ihr uns von der Landkarte tilgen wollt, nur erwartet nicht, daß wir euch dabei helfen, dieses Ziel zu erreichen“. Besser daran leiden, nicht geliebt zu werden, als unter dem Beifall seiner Feinde zu verschwinden. Es ist gefährlich zu glauben, daß der Gang der Geschichte moralische Positionen und Bekundungen von Tugend belohnt. Muss man an Renans Wort erinnern, das wie eine Mahnung klingt? „Die Geschichte tut das Gegenteil, als Tugend zu belohnen.“

Hinweise:
Zu Transparenten oder Plakaten dieser Art siehe Pierre-André Taguieff, Prêcheurs de haine. Traversée de la judéophobie planétaire, Paris, Mille et une nuits, 2004.
Souad Merah erklärt, sie sei auf ihren Bruder „stolz“ (afp, 10. November 2012)
Holger Knothe, Eine andere Welt ist möglich – ohne Antisemitismus? Antisemitismus und Globalisierungskritk bei attac, Bielefeld, Transcript Verlag, 2009

Quellen:
Robert S. Wistrich, Antisemitism: the longest hatred, London, Thames Methuen, 1991.
Leon Poliakov, De Moscou à Beyrouth, Essai sur la désinformation, Paris, Calman-Lévy, 1983, 13, 178.
Pierre-André Taguieff, La judéophobie des Modernes. Des Lumières au Jihad mondial, Paris, Odile Jacob, 2008, 262-308; id. La nouvelle propagande anti-juive, op.cit., 229-374; id. Aux origines du slogan „Sionistes, assassins!“. Le mythe du „meurtre rituel“ et le stéreéotype du juif sanguinaire, Les études du CRIF, Nr. 20, März 2011.
Jean Genet, Un captif amoureux, Paris, Gallimard, Folio, 1986, 239. Siehe auch zwei erhellende Kommentare: Éric Marty, Bref séjour à Jérusalem, Paris, Gallimard, 2003, 155ff; Émeric Deutsch, Les racines du mal: les origines in La volonté de comprendre, Textsammlung herausgegeben von Haim Korsia, Paris, Les éditions du Rosier, 2011, 282-286.
Siehe Pierre-André Taguieff (Herausg.) Les protocoles des Sages de Sion – Faux et usages d’un faux, Paris, Berg International, 1992, Band 2, 614-615.

Pierre-André Taguieff ist Philosoph, Politologe und Soziologe. Er ist Professor am Institut d’études politiques de Paris und Forschungsdirektor am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Paris.
 

 

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